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Frischluft Tretschwein, Parkhausblinker, Hasenhirn – wie Autofahrer im Corona-Jahr fluchen

Ein Autofahrer zeigt den Mittelfinger
"Ich zähle also hochoffiziell zu jenen 55 Prozent der Deutschen, die im Auto regelmäßig fluchen", bekennt stern-Autor Michael Streck (kl. Foto)
© Zoonar | Stefano Cavoretto / Picture Alliance
Unser Autor Michael Streck gehört zur Mehrheit der Deutschen, die hinterm Steuer schimpfen. Vor allem im Stau, der seiner Meinung nach abgeschafft gehört.

Vor ein paar Tagen entdeckte ich im Postfach eine Pressemitteilung mit einem wundervoll antiquierten ersten Satz. Nach dem üblichen "Sehr geehrter Herr" stand da "Mal Hand aufs Herz" und weiter: "Rutscht Ihnen beim Autofahren auch hin und wieder ein Schimpfwort raus?" Rasant, wenngleich mit leicht verbeulter Metaphorik, kriegten sie dann die Kurve über Corona und Weihnachten zur Kernbotschaft. Nämlich: Viele Menschen fühlten sich gestresst in dieser Zeit und vergäßen "im Schutzraum des eigenen Autos die gute Kinderstube". Weshalb der Dashcam-Hersteller Nextbase in Zusammenarbeit mit einem großen Meinungsforschungsinstitut die Lieblingsschimpfwörter der Deutschen am Steuer untersucht hätten. Hier also die Top-Five der teutonischen Flüche "im Schutzraum des eigenen Autos", die – das muss man leider festhalten – nicht sonderlich überraschend und kreativ sind: Arsch(loch) (20 Prozent), (Voll)Idiot (16 Prozent), (Voll)Depp (7 Prozent), Penner (5 Prozent), Blödmann (5 Prozent).

Die notorischen Berliner überflügelt

Wissend, dass da Luft nach oben ist, listeten sie gewissermaßen als Zuckerl noch ein paar ausgefallene Ausfälligkeiten des Jahres auf, darunter offenkundig regionale Spezialitäten – Hasenhirn, Tretschwein, Knallmax, Parkhausblinker oder Hannewackel. Wie man überhaupt lobend erwähnen muss, dass die Umfrage auch landsmannschaftlich heruntergebrochen wurde und wir nun wissen, dass auf rheinland-pfälzischen Straßen am meisten geflucht wird. Sie haben sogar die notorischen Berliner überflügelt, was eine ziemliche Leistung ist und Respekt verdient. In Hamburg geht es danach am entspanntesten zu. Was mich verwundert, denn das statistische Mittel in der Hansestadt müsste allein durch meine Teilnahme am hiesigen Straßenverkehr mindestens auf Berliner Niveau liegen. 

Michael Streck: Frischluft

Michael Streck, Jahrgang 1964, wurde in Lüdenscheid, am Rande des Ruhrgebiets entbunden und muss sich Zeit seines Lebens Witzchen über Loriots Herrn Müller-Lüdenscheidt anhören.

Er begann als Sportjournalist, wechselte als Reporter ins Deutschland-Ressort des stern und war von von 2001 bis 2008 US-Korrespondent in New York. Von 2014 bis zum Sommer 2019 war Streck Korrespondent in London und schrieb über Brexit, Gesellschaft, Kultur und Exzentrisches fürs Magazin, aber auch an dieser Stelle seine Online-Kolumne “Last Call“. Nun geht es hier weiter mit "Frischluft": Beobachtungen aus dem Alltag in Zeiten der Corona-Pandemie

Es sei verraten, dass mit mir regelmäßig die Gäule durchgehen. Ich schäme mich danach selbst ein klein wenig, wenn ich etwa vor dem Laptop sitze und auf den Drucker fluche, der nicht funktioniert, oder das Internet, das nicht funktioniert oder auf Bayern München, weil ich immer auf Bayern München fluche. Das ist so eine Angewohnheit. Ich sage bei diesen Gelegenheiten ziemlich viele Schimpfwörter auf, Knallmax oder Hannewackel gehören nicht dazu. Es hat auch nichts zu tun mit Corona oder Weihnachten oder sonstigem Stress. 

Ein Mann sieht rot. Im Stau vor der Grenze

Besonders schlimm ist es im "Schutzraum des eigenen Autos" und dort im Stau. Stau kann ich einfach nicht. Ich halte Staus für komplett überflüssig und überschätzt. Sie sollten von Merkel oder Lauterbach verboten werden schon wegen der vielen Aerosole im Schutzraum, Stoßlüften geht ja auch nicht im Stau. 

Einmal, auf einer sommerlichen Reise, filmten mich Frau und Töchter, wie wir im Stau standen an der bosnischen Grenze und ich einen leichten oder doch eher schweren Tobsuchtsanfall bekam und russische Autofahrer als Eisvögel beschimpfte und bosnische Zöllner als Stinkfische und mich meine Frau nicht mal mit dem Hinweis besänftigen konnte "Guck mal, vor uns ist ein Bayern-Fan". Die gute Absicht dahinter verfing nicht. Es machte die Sache nur schlimmer. Ich fluchte mich durch 16 Kilometer Stau und war danach richtig erschöpft und urlaubsreif. Glücklicherweise hatten wir keine Dashcam, die das alles hätte aufzeichnen und an den Hersteller senden können. Aber auch so gehört dieses Videodokument zu den peinlichsten meines Lebens und wird seitdem alle Jahre wieder zu Weihnachten bei uns daheim zur Vorführung gebracht. Ein Mann sieht rot.

Ich zähle also hochoffiziell zu jenen 55 Prozent der Deutschen, die im Auto regelmäßig fluchen. Sehr zum Groll der engelsgeduldigen Frau, die noch nie geflucht hat am Steuer und auch Stau kann. 

Ein fast religiöses Verhältnis zu Karossen

Wer nun etwas tiefer gräbt, stellt fest, dass das Phänomen des Fluchens im Auto zwar ein internationales ist, sich die Deutschen aber sehr viel intensiver daran abarbeiten als, sagen wir, Franzosen, Kambodschaner oder Inder. Was damit zu tun haben könnte, dass man hierzulande ein fast religiöses Verhältnis zu Karossen pflegt, wohingegen Autos andernorts eher als Mittel zum Zweck, also dem zur Fortbewegung, dienen. In Deutschland existieren tatsächlich Erhebungen darüber, in welchen Autos am meisten geflucht wird, erstaunlicherweise nämlich im Mini. Ausgerechnet Mini. Vielleicht hat der Mini einfach keinen Platz für die gute Kinderstube. 

Sollte im nächsten Jahr der Mini abgelöst werden von Dacia, wissen Sie, was für ein Auto wir fahren. Man muss sich gerade in diesen Zeiten auch mal Luft machen. 

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