Prof. Dr. Doris Henne-Bruns, 65, wurde 2001 Deutschlands erste C4-Professorin für Chirurgie.
Frau Henne-Bruns, sind Sie eine Quotenfrau?
Ich kam vor knapp 20 Jahren als erste Chirurgie-Professorin an die Uni Ulm. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass eine Frau überhaupt auf eine Berufungsliste kam. Ich war nicht an erster Stelle gesetzt, sondern auf Platz zwei oder drei – von insgesamt acht Kandidaten. Die ersten beiden Bewerber fielen aus; und dann war ich eben an der Reihe.
Wer hat Sie gefördert?
Meine Berufung wurde vom Deutschen Ärztinnenbund unterstützt. Innerhalb der Kommission gab es sicherlich auch Unterstützer, aber weniger unter dem Aspekt "Wir wollen jetzt eine Kollegin haben", sondern dort saßen Kollegen, die von meinen Künsten als Operateurin überzeugt waren. Ich musste mir nie groß auf die Brust schlagen und mein Chef-Sein betonen. Am OP-Tisch herrscht ein simples Prinzip: Es gibt ein Problem mit einem Patienten oder eine große Operation, und sowohl die Kollegen und OP-Mitarbeiter sehen sofort, ob man das Problem souverän lösen kann oder nicht. Wer es kann, ist akzeptiert.
Der Beste wird Chef – im Ernst? Das ist doch nirgendwo so.
Naja, das ist natürlich auch in der Chirurgie nicht ausschließlich so. Fragen wir doch mal, wie wir eigentlich "den Besten" definieren. In der universitären Medizin geht es grundsätzlich um Forschung und Lehre. Man sollte also denken, dass der oder die Beste jemand ist, der einen Forschungsbeitrag leistet und den Nachwuchs gut unterrichtet. Das System hat sich aber dahin entwickelt, dass derjenige als der Beste gilt, der möglichst viele so genannte "Drittmittel" anwirbt, also Geld von Organisationen und Firmen. Und zusätzlich möglichst viele Fachartikel veröffentlicht, die möglichst oft zitiert werden. Die Qualität der Lehre spielt fast keine Rolle mehr, damit gewinnt man nichts. Gerade bei den Drittmitteln ist in den letzten 20 Jahren ein gewaltiges "G’schmäckle" rein gekommen, wie der Schwabe sagt. Denn es sind häufig Auftragsarbeiten aus der Industrie, reine Medikamententests – auch wenn das hinterher in renommierten Fachzeitschriften erscheint. Ist das innovativ? Macht das einen Akademiker aus? Ich finde nicht.
Schon 2014 gab es von der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland) ein Statement, dass Drittmittel und Publikationen keine validen Bewertungskriterien für wissenschaftliche Leistungen sind. Seitdem hat meines Erachtens keine medizinische Fakultät irgendetwas geändert. Warum ist das so? Weil niemand das Wertesystem zu seinem eigenen Nachteil umstellt. Die Gremien sind männlich dominiert. Sie halten am Alten fest, denn sie profitieren davon. Und dadurch ändert sich nichts im Denken.

Ist es typisch weiblich, das ändern zu wollen?
Nein, nur: In diesem System will sich kaum noch eine Frau habilitieren. Chefarzt zu werden ist nicht attraktiv, es gibt zu wenig Gestaltungsspielraum. Denn man muss Erträge für die Klinik erzielen und der Verwaltungsdirektor sagt einem, was man machen darf und was besser nicht.
Immer wieder heißt es, Frauen wollten ja keine Verantwortung übernehmen, nicht im eisigen Wind von Konkurrenz und Leistung stehen.
Das Argument lehne ich ab. Der Punkt ist doch, dass die Frauen nicht wissen, wie sie die Kraft für die Überbelastung von Beruf und Familie aufbringen sollen. In Deutschland leben wir noch immer nach dem Prinzip: Das Kind gehört zur Mutter. Ganztagsbetreuung für Kinder ist nicht selbstverständlich, das ist Privatsache. Ganz anders in unseren Nachbarländern, etwa in Schweden, Belgien, Frankreich oder den Niederlanden. Dort stimmt das Rahmenprogramm für Familien. Kinderbetreuung, Hausaufgabenbetreuung, gutes Schulessen sind verlässlich. Bei den Nordeuropäern kommen noch bessere Arbeitsmodelle hinzu: Arbeit ist partnerschaftlich aufgeteilt. Bei uns hingegen zahlen Frauen die doppelte Zeche: Sie arbeiten weniger, sammeln weniger Erfahrung, brauchen länger für den nächsten Entwicklungsschritt – und haben am Ende weniger Rente. Immerhin sehe ich kleine Erfolge: Zu meiner Jungendzeit galten Männer, die Kinder betreuten, als Weicheier. Heute gehen auch meine Oberärzte in Elternzeit – wenn auch nur für ein paar Wochen.

Haben Sie jemals in Teilzeit gearbeitet?
Nie. Wir hatten eine sehr engagierte Tagesmutter für unseren Sohn. Viele angehende Ärztinnen, die ich beruflich berate, sagen mir: Aber für eine Tagesmutter gebe ich dann die Hälfte meines Einkommens aus. Mal ganz langsam, sage ich dann. Was heißt denn hier "ich"?! Es gibt nicht die Mutter die Hälfte ihres Einkommens ab, damit sie arbeiten darf. Sondern die Familie gibt vom Familieneinkommen ab. Diese Denkweise sitzt so tief: Die Mutter muss für Ersatz sorgen, wenn sie abwesend sein will. Es muss doch anders lauten: Als Familie herrscht Konsens darüber, dass beide Eltern sich entwickeln dürfen. Und dann, wenn wir nicht für die Kinder da sein können, finden wir gemeinsam eine Betreuung und finanzieren sie auch gemeinsam. Das ist eine ganz andere Grundeinstellung.
Im Jahr 2001, als ich in Ulm Klinik-Chefin wurde, kam mein Sohn in die erste Klasse. Mein Mann arbeitete in Hamburg und kam am Wochenende nachhause. Da haben sicher ganz viele gesagt: Das arme, arme Kind! Dabei war das Kind kerngesund und bestens drauf – bis heute. Wichtig war: Morgens und abends war ich voll für ihn da, ohne Störungen.
Warum finden Sie, dass Deutschland mehr gesetzliche Quoten braucht?
Wir brauchen die Quote auf allen Ebenen, nicht nur bei den Aufsichtsräten. In viele Kontrollgremien sind plötzlich Frauen aufgerückt, egal ob sie die Bilanzen lesen können oder nicht. Dort gestaltet man aber nicht, was in einem Unternehmen läuft. Deshalb gehören Frauen auch in die Vorstände und in den Mittelbau. Das geht nicht gegen die Männer, sondern es geht um neue Ideen. Wir wollen doch als Gesellschaft in allen Bereichen Menschen mit Erfahrungen haben, die Probleme konstruktiv lösen können. Nun haben Männer wenig Erfahrung darin, Probleme im Umgang mit Beruf und Familie zu lösen. Weil sie die Belastung gar nicht kennen. Das Getriebensein schon früh morgens, das kennen vor allem Frauen: Kann ich pünktlich da sein, bin ich rechtzeitig zurück, geht einer noch zum Geburtstag und müssen wir noch Turnschuhe kaufen? Und abends denken sie: Was habe ich vergessen? Diese Art von Parallelplanung zusätzlich zum Job macht kaum ein Mann. Solche zwei Seiten von Lebenserfahrung zusammenzubringen, ist lohnend.
Was nützt es der deutschen Durchschnittsfrau, wenn ein paar mehr Frauen in die Vorstände aufrücken, sechsstellige Gehälter verdienen, dicke Dienstwagen fahren?
Also, ob sechsstellige Beträge für Manager gerechtfertigt sind, das ist noch mal ein anderes Thema... Wie gesagt: Es geht mir nicht nur um die Vorstände. In der Medizin brauchen wir Oberärztinnen, Klinik-Chefinnen, Dekaninnen. In allen Bereichen sollten Frauen gleichermaßen vertreten sein, um ihre Ideen einzubringen. Mehr als 50 Prozent unserer Gesellschaft sind Frauen. Aus welchem Grund verzichten wir auf das intellektuelle Potenzial der Hälfte der Gesellschaft?
Sie sagten im stern-Podcast "Die Boss", der Titel Ihrer Autobiografie könnte lauten "Im Haufisch-Becken". Wer sind die Haie?
Mir hat mal ein Kollege gesagt, die männlichen Kollegen kreisen wie Haie um das fremde Objekt Frau herum. Schafft sie es, schafft sie es nicht? Eine einzige Frau ist wie ein exotisches Tier. Dieser Blick ist falsch. Denn in dem Moment, in dem in einem Gremium rund 30 Prozent Frauen sitzen, werden sie nicht mehr als fremd wahrgenommen. Um bei der Fauna zu bleiben: Männer in erlebten Fakultätssitzungen waren oft wie Hirsche: Sie mussten ihr Geweih zeigen und kräftig röhren – also deutlich machen, wie gut sie sind. Aber das ist völlig überflüssig. Kein Argument wird besser, wenn der Sprecher zusätzlich erzählt, auf welcher tollen Tagung er war bzw. welche Berühmtheiten er getroffen hat.
Haben Sie da nie ein bisschen mitgemacht?
Nein. Das war mir immer zu lächerlich. Was interessiert die Leute um mich herum, wen ich alles kenne, wo ich überall war? Völlig irrelevant für das Argument, das auf dem Tisch liegt. So ein gewisser Nimbus vieler Männer hat mich nie beeindruckt.
Hatten Sie ein Vorbild?
Ich war der einzige Sohn meines Vaters. (lacht)
Am Ende kommt es auf das Elternhaus an, ganz unabhängig vom Geschlecht.
Ja. Ich war ein kleines, spiddeliges Mädchen, aber die Wertschätzung in meiner Familie war immer groß. Es gab viel Ermutigung: Du musst deinen Weg gehen, und zwar so, wie du Freude daran hast. Mein Vater war Internist und hat mich durchaus gewarnt: In dieser Männer-Domäne der Chirurgie, wirst du da glücklich? Und ich: Ich will es zumindest ausprobieren.
Erinnern Sie sich an Situationen, wo man Sie hart angegangen ist? Wo Kollegen versucht haben, Sie klein zu machen?
Nein. Entweder ist das nicht passiert – oder ich habe es nicht gemerkt. Vielleicht eher Letzteres. Allerdings bin ich auch immer fair mit anderen umgegangen, so dass ich wahrscheinlich wenig Anlass für Angriffe bot.
Wenn Sie ein Mann wären – wie wäre dann Ihre Karriere verlaufen?
Ich wäre wohl nicht so glücklich geworden. Denn ich hätte viel mehr rivalisieren müssen. In gewisser Weise war es in meiner Generation ein Privileg, eine Frau zu sein, weil ich das Konkurrenz-Spiel nicht mitspielen musste. Bei Vorträgen und Kongressen blieb ich auch oft stärker in Erinnerung, eben weil ich die einzige Frau war. Und noch etwas: Wenn man sich damals als Frau irgendwo beworben hat und den Posten nicht bekam, war man keine Versagerin. Wenn das einem Mann passierte, bedeutete das eine tiefe Delle für den Lebenslauf und das Selbstwertgefühl.
Zum Schluss: Was ist die wichtigste Job-Regel für Frauen?
Sei du selbst. Imitiere keinen, richte dich nach deinen Kräften, nach deiner Begeisterungsfähigkeit. Nur wenn du begeistert bist für das, was du tust, hast du die Motivation, dich weiter zu entwickeln. Ist es nur Mühsal, hast du keine Kraft.
Uns interessieren auch Ihre Erfahrungen und Ihre Meinung. Wie sieht es in Ihrem Job aus? Könnten Sie mehr Frauen oder Männer gebrauchen? Schreiben Sie uns unter quotenfrau@stern.de