Es gibt spannendere Pressetermine als eine Kreistagssitzung. Oft wird in einem Vereinsheim, einer Turnhalle oder Gemeindehaus stundenlang über einen Antrag nach dem anderen abgestimmt. Die Abgeordneten halten keine feurigen Reden, sie diskutieren trockene Vorschläge für die Änderung von Unterpunkten in Beschlüssen, die mal zehn, mal 100 Menschen betreffen. Es geht um Verkehrsampeln, Forstwege, Schulsanierungen. Sachpolitik. An diesem Mittwochnachmittag in Sonneberg ist alles anders.
An diesem Mittwochnachmittag sind selbst die überregionalen Medien zur Kreistagssitzung gekommen. In der Aula der Hermann-Pistor Schule müssen sich die Kreistagsmitglieder durch einen Pulk an Journalisten zu ihren Plätze schlängeln. Es ist die erste Sitzung nach der Sommerpause. Die erste Sitzung, nachdem die AfD hier in Thüringen den ersten Landkreis Deutschlands gewonnen hat. Und heute wird ihr Kandidat Robert Sesselmann ganz offiziell zum ersten AfD-Landrat Deutschlands vereidigt.
Fünf Kameras sind auf ihn gerichtet, während er sich nervös mit dem Zeigefinger seine Brille nach oben schiebt, unschlüssig in einem Ordner blättert und leise und genervt Reporterfragen abwehrt: "Ich muss mich vorbereiten."
Keine Interviews, keine Pressekonferenzen
So neu ist das alles gar nicht mehr für ihn. Seit dem dritten Juli ist Robert Sesselmann schon bei der Arbeit, heute wird er ganz offiziell ins Amt gehoben. Dank 52,8 Prozent der Stimmen löst er den CDUler Jürgen Köpper ab, der in der Aula neben Sesselmann sitzt, jetzt als sein Stellvertreter. Wie die Einarbeitung in den letzten 52 Tagen als Landrat gelaufen ist, dazu möchte Sesselmann erst etwas sagen, wenn die "100 Tage Schonfrist vorbei sind." Bis dahin: Keine Interviews, keine Pressekonferenzen, keine Besuche im Landratsamt.
Die Sitzung beginnt, die Glocke bimmelt, Fernsehkameras müssen den Raum verlassen. Ton- und Videoaufnahmen sind im Sonneberger Kreistag nicht gestattet. Sesselmann trägt schwarze Turnschuhe, Hemd und Krawatte – wie fast alle, die hier im Kreistag sitzen: Die Sitzung ist etwas Besonderes, nicht nur, weil das Medieninteresse groß ist. Sie kommen hier schließlich nur alle paar Monate zusammen, um über die Belange des Kreises abzustimmen. In der restlichen Zeit arbeiten die meisten Kreistagsmitglieder in normalen Jobs, sind Angestellte oder Lehrer.
Vor Sesselmann stehen Schultische und Stühle in Gruppen, ähnlich wie im Parlament: Ganz links die Linken und die Grünen, 10 Sitze. Ganz rechts die AfD, 9 Sitze. Dazwischen sitzen die zerstrittenen Christdemokraten, seit einem Jahr in zwei Fraktionen: Fünf ehemalige CDU-Mitglieder haben sich vor einem Jahr abgespalten und bilden nun als "Pro LK Sonn” eine eigene Fraktion. CDU und Linke werfen ihnen vor, der AfD nahe zu stehen, sie selbst wollen das nicht hören. "Das ist diffamierend", sagt Sonnebergs Bürgermeister Heiko Voigt. Der Parteilose hat sich gemeinsam mit zwei FDPlern ebenfalls der Pro LK Son-Fraktion angeschlossen. Und die Sozialdemokraten? Sitzen ganz hinten zu dritt an einem Tisch.
Darf man mit der AfD zusammenarbeiten?
Zunächst geht es gar nicht um Sesselmann – und gleichzeitig geht es immer um Sesselmann. Die langjährige Justiziarin des Landratsamtes wird verabschiedet, und kann sich unterschwellige Kritik am neuen Landrat nicht ganz verkneifen. "Es ist mir nicht gelungen, meine Arbeit in fachlich sehr gute Hände weiterzugeben. Es war mir nicht möglich", sagt sie. Sie hatte einen Mitarbeiter vorbereitet, ihre Nachfolge anzutreten. Die Ausschreibung für die Stelle lief. Als Sesselmann der Chef des Landratsamtes wurde, zog er die Ausschreibung zurück, die Stelle bleibt erstmal unbesetzt. Der vorgesehene Mitarbeiter, so wird gemunkelt, war Sesselmann wohl zu CDU-nah.
Tagesordnungspunkt zwei: Bürgersprechstunde. Nur eine Handvoll Sonneberger ist zur Sitzung gekommen, zwei stellen kleinteilige Sachfragen, eine Sonnebergerin aber will ein Zeichen setzen. "Ich gratuliere ihnen ausdrücklich nicht zu Wahl, Herr Sesselmann", sagt sie. Auf ihrer Brust klebt ein "FCK AFD"- Sticker.
Und da ist sie wieder, die Gretchenfrage, die in Sonneberg nun jede und jeder beantworten muss: Wie gehen wir um, mit dem Landrat von der AfD? Dürfen demokratische Parteien überhaupt mit der AfD zusammenarbeiten? "Natürlich muss dann in den Kommunalparlamenten nach Wegen gesucht werden, wie man die Stadt, den Landkreis gestaltet", hatte vor wenigen Wochen CDU-Chef Friedrich Merz mit Blick auf Sonneberg gesagt. Es folgte eine hitzige Debatte über die Brandmauer, ihren Abbruch, ihren Neuaufbau. Am Ende musste Merz zurückrudern: "Es wird auch auf kommunaler Ebene keine Zusammenarbeit geben."
"Es geht uns hier um Sachthemen, oder?"
Sesselmann verfolgt diese Diskussion, er weiß, dass die Öffentlichkeit ihn genau beobachtet. Im Wahlkampf bezeichnete er die Bundesrepublik als "Marionettenstaat der USA”, er wollte den Euro abschaffen, er trat auf, wie jemand der mindestens Kanzler werden wollte. Als Landrat gibt es sich nun betont harmonisch, abgesehen vom kleinen Seitenhieb in Richtung Berliner CDU. "Sie sehen ja, wir hören uns hier alle gegenseitig zu. Wir bauen keine Brandmauer", sagt Sesselmann in der Sitzungspause. Auch sein Pressesprecher, seit sechs Jahren im Landratsamt, betont: "Hier gibt es keine Gräben." Der parteilose Sonneberger Bürgermeister steht daneben und nickt. "Es geht uns hier um Sachthemen, oder?” – "Es geht hier um Sachthemen”, wiederholt der Bürgermeister.
Als Sesselmann dann seinen Eid auf das Grundgesetz gesprochen hat und auf die Thüringische Verfassung, als der Blumenstrauß übergeben worden und der Applaus, ja wirklich, verklungen ist, findet auch Christian Tanzmeier, der Fraktionschef der CDU: "Es ist Zeit, zu Sachfragen zurückzukehren." Sonneberg sei ein liebenswerter Landkreis. Man lehne Diffamierung von Wählern und Wählerinnen ab, wie sie in den vergangenen Wochen durch die Medien betrieben wurden.
So ganz ungenutzt will man die vielen Kamerateams und Reporter in der Aula auch nicht abziehen lassen. Sanft aber bestimmt lenkt Sesselmann den AfD-Landtagsabgeordneten Uwe Thrum in Richtung Kameras und sagt vollmundig: "Hier ist unser zweiter Landrat." Thrum tritt im Januar kommenden Jahres bei der Landratswahl im nahen Saale-Orla-Kreis an. Sein Traum: Ein zweites Sonneberg.
Tatsächlich ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass in Zukunft auch Mitglieder anderer Kreistage mit einem Landrat umgehen müssen, der zur AfD gehört. Sie müssen dann entscheiden, ob sie im Kommunalen, bei Sachthemen mit der in Teilen rechtsextremen Partei zusammenarbeiten. Mit ihr gemeinsam über Anträge abstimmen.
Skandal oder das neue Normal?
An diesem Mittwochnachmittag in Sonneberg ist genau das gleich mehrfach passiert. Ist das nun ein Skandal? Oder einfach das neue Sonneberger Normal?
Es ging um den gravierenden Ärztemangel, das Kreiskrankenhaus muss seine Geburtsstation schließen. Es ging um fehlende Fachkräfte, und die Frage, wie man Geflüchtete in Arbeit bringt. Um bessere Parkmöglichkeiten vor einer Schule für Kinder mit Behinderung. Um Problemen, von denen die Menschen in Sonneberg wollen, dass sie einfach gelöst werden. Die meisten im Kreistag sagen: Ganz ohne Landrat Sesselmann wird das nicht gehen.