München ist rot-weiß. Definitiv. Hauserwände, U-Bahnhöfe, Fenster, in Schwabing sogar ein ganzer Straßenzug: Wo immer man sich in diesen Tagen in der Endspiel-Stadt aufhält, wo immer man hinschaut, den "Mia-san-Mia"-Plakaten und "Finale dahoam"-Bannern" ist visuell nicht zu entkommen. Die Stadt ist euphorisiert, sie hat auf diesen Tag mindestens ebenso hingefiebert wie die Spieler des FC Bayern. Wie gut hat Mario Gomez in der Nacht wohl geschlafen? Kann er den ganzen Wahnsinn ausblenden? Was hat Philipp Lahm am Samstagfrüh beim Frühstück gedacht? Zu gerne würde man in die Köpfe der Profis vor so einem Jahrhundertspiel (ab 20.45 Uhr im stern.de-Liveticker) hineinschauen.
Nach außen wirken die Münchner Stars gelassen. "Ich befasse mich erst auf der Fahrt vom Hotel ins Stadion mit dem Spiel gegen Chelsea", hat Gomez gesagt. Die Aussage vom Ein-Mann-Sturm der Münchner erstaunt nicht. Der Nationalspieler lässt seine Maske selten fallen. Mehr Gewicht und Gehalt haben die Worte des Kapitäns. Philipp Lahm ist erst 28 Jahre alt, aber er wirkt wie Mitte 40. Vielleicht, weil er sich so klug und gewählt ausdrücken kann. Vielleicht aber auch, weil er in der Lage ist, zu reflektieren. Lahm weiß, was heute Abend auf dem Spiel steht. Für den FC Bayern München. Aber auch für ihn ganz persönlich.
Lahm hofft auf die Erlösung
2006 wurde Lahm beim deutschen WM-Sommermärchen kurz vor dem großen Ziel im Halbfinale von Italien gestoppt. Zwei Jahre später verlor er sein erstes großes Endspiel bei der Europameisterschaft in Wien gegen Spanien. 2010 endete mit doppeltem Frust: Erst gab es die 0:2-Niederlage mit den Bayern im Königsklassen-Endspiel gegen Inter Mailand, dann war in Südafrika im WM-Halbfinale einmal mehr Spanien Endstation. Nun sind wieder zwei Jahre vergangen - Lahm droht die Zeit wegzulaufen. Gegen Chelsea geht es für den Anführer der Bayern, übrigens genauso wie für Bastian Schweinsteiger (27), darum, elf Jahre nach Stefan Effenberg und Oliver Kahn in die Fußstapfen der ersten Münchner Champions-League-Sieger zu treten und die eigene Karriere endlich mit einer unvergesslichen Heldentat zu krönen.
"Allzu lange habe ich nicht mehr auf meinem allerhöchsten Niveau", sagt Lahm in den Tagen vor dem Königsklassen-Endspiel ohne Umschweife. Und er wird sogar noch deutlicher: "Wenn man eine goldene Generation werden will, gehört ein internationaler Titel dazu." Wenn Philipp Lahm am Abend seine Mannschaft um kurz nach halb neun auf den Rasen der Allianz-Arena führen wird, dann hofft der rechte Außenverteidiger auf eine Erlösung. Nationale Titel sind für ihn auf Dauer kein Ersatz. "Für mich persönlich hat die Champions League einen sehr hohen Stellenwert, genauso wie der Europameister- oder der Weltmeistertitel", erklärt der 28-Jährige und gesteht: "Das hat ein Stück weit mehr Bedeutung als Meisterschaft und Pokal." Das Ziel, den großen silbernen Henkelpott zu holen, für Philipp Lahm hat es sich längst zu einer Obsession entwickelt. Es gibt jetzt keine bessere Chance für ihn, die Champions League zu gewinnen. Und was ist, wenn es doch nicht klappt? Was passiert mit Philipp Lahm, wenn es gegen Chelsea daneben geht? Man würde ihn in die Ballack-Ecke stellen. In die Ecke des Unvollendeten. Keine schöne Vorstellung.
Der Druck hat sich noch einmal erhöht
Lahm selbst würde im Falle einer Niederlage gegen Chelsea, zum ungünstigsten Zeitpunkt drei Wochen vor Beginn der EM, vermutlich in eine mittelgroßes Loch fallen. Aber der doppelte Kapitän ist zu sehr Profi und charakterlich gefestigt, als dass er sich nicht auch rechtzeitig aus der Krise herauskämpfen würde. Was aber mit dem FC Bayern im Fall des Unvorstellbaren passiert, ist nur schwer zu prognostizieren. Fest steht: Eine Saison ohne Titel würde bei den Roten vielleicht kein Beben auslösen, aber im Klub würde es heftige Debatten geben - in erster Linie natürlich über die Qualität des Spielermaterials und warum das nicht ausreichend war, um wenigstens einen Pokal zu holen.
Vielleicht war die die 2:5-Niederlage im Pokal gegen Borussia Dortmund ein heilsamer Schuss vor den Bug war. Vielleicht haben die fünf Einschläge die Bayern aber auch nachhaltig geschockt. Fest steht: Der Druck, der auf den Bayern lastet, hat sich nach dem Desaster von Berlin und Platz zwei in der Liga noch einmal erhöht.
Wie geht beispielsweise der 22-jährige Diego Contento damit um? Der Verteidiger wird am Abend für den gesperrten David Alaba einfach so in die Mannschaft geworfen. Man sagt, er und Anatoliy Tymoshchuk, der für Holger Badstuber spielt, seien die einzigen Schwachstellen im Team der Bayern. Das ist grausam und brutal. Genauso brutal ist es, dass für die Münchner die Gesamtbilanz einen ganzen Jahres von diesem einen Spiel gegen den FC Chelsea abhängen wird - im öffentlichen Urteil sowieso, aber auch intern bei den Bayern wäre das nach dem eigenen Mia-san-Mia-Selbstverständnis nicht anders. Sie wollten ihr Endspiel, jetzt stehen sie im Endspiel. Aber bei aller Euphorie und Vorfreude: Die Angst wird heute Abend bei den Bayern auch mitspielen.
So wollen sie spielen:
FC Bayern:
Neuer - Lahm, Tymoshchuk, Boateng, Contento - Schweinsteiger, Kroos - Robben, Müller, Ribéry - Gomez
FC Chelsea:
Cech - Bosingwa, Cahill, Luiz, Cole - Mikel, Lampard - Kalou, Mata, Bertrand - Drogba.