Julian Nagelsmann gab zwischendurch einmal Entwarnung. Er habe lediglich einen "leichten Schnupfen", es sei kein Corona und man solle sich keine Sorgen machen, sagte der Bundestrainer nach der EM-Gruppen-Auslosung zu den Journalisten, die sich in der Mixed Zone der Hamburger Elbphilharmonie um ihn drängten, um seine Einschätzung zu hören.
Nagelsmann erzählte danach zum wiederholten Mal die Geschichte, dass er mit dem Auto von München nach Hamburg gefahren sei. Wegen des Wintereinbruchs waren zahlreiche Züge in Bayern ausgefallen und der Flugverkehr war teilweise eingestellt. Also setzte sich Nagelsmann kurzerhand ins Auto, weil er die Auslosung nicht verpassen wollte und raste durch die verschneite Republik in den hohen Norden. Die Fahrt brachte ihm ein ausdrückliches Lob von Rudi Völler ein. Sie hätten eigentlich zusammen anreisen wollen, erzählte der Direktor der DFB-Elf.
Es hätte schlimmer kommen können für Julian Nagelsmann
So schritten die beiden, die die strauchelnde DFB-Elf gemeinsam durch das Turnier führen sollen, über den roten Teppich in den großen Saal der "Elphie". Dort verfolgten sie, wie die Nationalelf mal wieder Losglück hatte. Bei der EM bleibt der DFB-Elf eine schwere Gruppe erspart. "Das ist keine Todesgruppe, aber es gibt keine wirklich schlechten Gegner", fasste Nagelsmann das Ergebnis der Ziehung nüchtern zusammen: Schweiz, Ungarn und Schottland, gegen das Deutschland das Eröffnungsspiel in München bestreitet, heißen die Gegner in der Gruppe A.
Es hätte bedeutend schlimmer kommen können. Im Vergleich zu Gruppe B (Spanien, Kroatien, Italien, Albanien) und Gruppe D (Niederlande, Österreich, Frankreich und einen Playoff-Qualifikanten) ist Gruppe A auf dem Papier leichter. Schon während der Ziehung auf der in blaues Licht getauchten Bühne hatten sich Nagelsmanns Gesichtszüge merklich entspannt.
Das Ergebnis bedeutet für ihn und seine Mannschaft, dass sie etwas entspannter in das Turnier startet, ohne gleich auf einen Gegner wie Italien, Niederlande oder Kroatien zu treffen. Und wenn man bedenkt, dass die Gruppenersten-, -zweiten und vier besten Gruppendritten weiterkommen, sollte zumindest die Angst vor einem frühen Scheitern geringer sein (auch wenn das nicht ausgeschlossen ist!).
Philipp Lahm: DFB-Elf hat keinen Kern
Für Nagelsmann mag das in den nächsten Wochen eine kleine Erleichterung sein. Angesichts der gewaltigen Aufgabe, die vor ihm liegt, war der Abend in Hamburg also lohnenswert. Dennoch täuscht das Losglück nicht darüber hinweg, dass die Schonzeit für den Neu-Bundestrainer schneller vorbei ist als sonst üblich. Die jüngsten Pleiten gegen die Türkei und Österreich haben allen klargemacht: Auch ein Nagelsmann wird länger brauchen, um eine zutiefst verunsicherte Mannschaft konkurrenzfähig zu machen. Die Zeit ist knapp: Es sind nur drei Testspiele und sechs Monate bis zum Eröffnungsspiel am 14. Juni in München.
Die große Auslosungsshow in Hamburg ließ nur kurz vergessen, dass der Druck auf den DFB mit jeden Tag steigt. Die EM soll ein großes Fest werden, ähnlich wie das Sommermärchen. Das gelingt nur, wenn die deutsche Mannschaft einigermaßen erfolgreich ist.
Es ist Turnierdirektor Philipp Lahm selbst, der jetzt angefangen hat, den Bundestrainer stärker in die Verantwortung zu nehmen. Lahm hatte erst vor zwei Tagen die Aufstellungsexperimente Nagelsmanns kritisiert. In Hamburg monierte er erneut, dass er "in der Mannschaft keinen Kern" sehe. Er warnte, dass die Deutschen "eine gefährliche Gruppe" hätten. Der Turnierdirektor möchte verhindern, dass sich die deutsche Elf zur EM kriselt. Für die Stimmung im Land wäre das ein ziemlicher Dämpfer. So ließ sich Lahm durch das Losglück und eine glanzvolle Auslosungszeremonie nicht davon abringen, den Finger in die Wunde zu legen. Aus seiner Sicht ist das verständlich. Es macht aber Nagelsmanns Aufgabe nicht leichter.
So gesehen ist es für Nagelsmann ein Glück, dass die nächsten Testspiele erst im März stattfinden. Bis dahin kann er wenigstens nicht verlieren. Dass er einiges unternehmen muss, um die am Boden liegende Mannschaft für die EM in Form zu bringen, weiß er und kündigte Veränderungen an: Es werde keine Radikalkur geben, aber er habe "eine klare Meinung zu allen Spielern". Es würden Entscheidungen "im Sinne der Sache" werden, damit die Mannschaft "besseren Fußball" spiele. Das klang entschlossen. Nagelsmann weiß, dass ihm neben dem allgemeinen Erfolgsdruck nun auch Lahm im Nacken sitzt.