Wenn es eines Zeichens bedurfte, wie mies es um die deutsche Nationalmannschaft wirklich steht, dann war es die rote Karte gegen Leroy Sané. Es lief die 49. Minute im Test gegen Österreich, das letzte Länderspiel vor der langen Winterpause für die Nationalelf. Die DFB-Elf lag zu diesem Zeitpunkt nach einer desolaten Leistung in der ersten Halbzeit mit 0:1 zurück. Wie gefrustet Sané vom Spiel seiner Mannschaft und der eigenen Leistung gewesen war, hatte man vorher beobachten können. Sané hatte viel geschimpft und geflucht und zu einem Frustfoul gegen Österreichs Außenverteidiger Stefan Posch angesetzt – da noch ohne Folgen.
Kurz nach Wiederanpfiff brannten dem Münchner Angreifer die Sicherungen komplett durch: Erst foulte er Gegenspieler Philipp Mwene, der Österreicher brachte Sané im Gegenzug zu Fall und provozierte zusätzlich, Sané stieß Mwene daraufhin rüde mit dem Ellenbogen um und sah zurecht die rote Karte. Doch trotz der Eindeutigkeit der Situation beruhigte sich Sané nicht, sondern versuchte, Mwene noch ein paar Worte zu sagen. Die Mitspieler hatten Mühe, den Bayern-Star zu beruhigen. Es war ein Bild des Jammers.
Sanés Verhalten versinnbildlicht die ganze Misere
Sanés Platzverweis bestrafte das Team zusätzlich. Die Mannschaft spielte in der Folge in einer Art Trotzreaktion zwar ein bisschen konzentrierter und besser, doch gegen zahlenmäßig überlegene Österreicher reichte es nicht ansatzweise. Im Gegenteil: Die deutsche Elf kassierte ein weiteres Tor. An diesem Abend im Ernst-Happel-Stadion dürfte dem letzten Fußball-Optimisten in Deutschland klar geworden sein: Bei der deutschen Nationalelf geht nichts mehr, die Nerven liegen blank. Selbst dem ZDF-Experten Per Mertesacker blieb da nur Sarkamus: Das Beste daran sei, meinte Mertesacker, dass die Deutschen als Gastgeber für die Europameisterschaft in nächsten Jahr automatisch qualifiziert seien.
Triumphe, Spott und Schiebermützen: Das waren die Bundestrainer von Nerz bis Nagelsmann

Das hochgradig unprofessionelle Verhalten Sanés illustriert die Misere eindringlich. Fußballerisch klappte nichts, und dann versagte die Selbstkontrolle auf eklatante Weise. Das Urteil des Bundestrainers fiel dabei noch mild aus ("Hat sich vor der Mannschaft entschuldigt"). Das ehrt ihn. Doch wer Julian Nagelsmann bei seinem Auftritt nach dem Spiel im ZDF-Studio gesehen hat, weiß: Der Mann ist zunehmend ratlos, vielleicht sogar verzweifelt. Seine Worte klangen wie die seines Vorgängers Hansi Flick: "Haben noch viel Arbeit vor uns", "Brauchen deutsche Tugenden", und so weiter, und so fort. Alles richtig, nur weiß keiner, wie das umgesetzt werden soll.
Und das ist der alarmierendste Befund: Gegen mentale Aussetzer wie ihn Sané mit seinem Ausraster zeigte, hat der Bundestrainer offenbar keine Mittel. Der Zusammenhalt in der Mannschaft sei sehr gut, betonte Nagelsmann, doch wenn der Anpfiff ertöne und die Spieler auf dem Platz stünden, falle das Team auseinander ("Der Transfer auf den Platz klappt nicht") Bei Sané hat es sich am Abend im Ernst-Happel-Stadion nur in seiner extremsten Form gezeigt. Im Verein spielt er in herausragender Form, in der Nationalelf ist alles wie weggeblasen. Das nennt man gemeinhin ein Kopfproblem.
Was nützt eine Diskussion über den Trainer?
Nun kann man anfangen, über Nagelsmann als Trainer zu diskutieren, wie es jetzt schon getan wird. Es ist ganz offenbar, dass der junge Coach noch nicht die richtige Ansprache und die richtige Mischung aus Spielern gefunden hat, um das nächste Scheitern bei einem großen Turnier zu verhindern. Überfordert er die Spieler mit seinen Ideen? Denkt er zu kompliziert? Oder machen es sich die Spieler zu einfach? Ist es einfach ein unmotivierter Sauhaufen, der nicht zusammenpasst? Beides stimmt vielleicht ein bisschen, erklärt aber nicht die Tiefe der Krise. Bei Nagelsmann setzen sich lediglich die Probleme fort, die bereits unter Joachim Löw und Hansi Flick existierten.

Vielleicht sollten sich der DFB und alle, die es gut meinen mit der Nationalelf, von bestimmten Glaubenssätzen und Ansprüchen verabschieden. Das Gerede von der enorm hohen individuellen Qualität der Spieler ist so ein Standardspruch. Er mag für sich genommen so richtig sein, bedeutet aber (wie man schmerzhaft sieht), rein gar nichts. Je häufiger er ausgesprochen wird, desto hohler klingt er.
Vielleicht wäre es auch sinnvoll, das kommende EM-Turnier nicht vorher schon zu einem Sommermärchen-Revival auszurufen. 2006 und 2014 sind Vergangenheit. Nagelsmann erklärte im ZDF-Studio, dass es darum gehe "zu akzeptieren, dass wir sehr viel Arbeit haben". Es klang nach einer realistischen Einschätzung der aktuellen Situation.
Vielleicht liegt darin die Hoffnung auf Besserung.