Der ganze Frust fiel ab, die königsblaue Feier wurde zur Dauer-Party. »Die Truppe hat diese Saison Großartiges geleistet. Schön, dass sie jetzt auch mit einem Titel belohnt wurde«, jubelte ein freudetrunkener Rudi Assauer, nachdem der unglückliche Vizemeister durch zwei Tore des neuen deutschen »Kunstschützen« Jörg Böhme gegen den couragierten und sympathischen Underdog Union Berlin den dritten Pokal-Triumph perfekt gemacht hatte. Und Aufsichtsrats-Chef Jürgen Möllemann sagte nach dem ersten nationalen Titel seit 29 Jahren im Überschwang der Gefühle voraus: »Nächstes Jahr wollen wir das Champions-League-Finale Bayern München gegen Schalke - 0:4.«
Welch nervliche Last sich nach der abrupt beendeten »Vier-Minuten- Meisterschaft« in Gelsenkirchen angestaut hatte, zeigte sich am deutlichsten lange nach dem Abpfiff des stimmungsvollen Pokal-Festes. Um 2.20 Uhr schmetterte Assauer im Hotel »Steigenberger« das Kultlied »Wo am Schalker Markt« an, die Spielerfrauen huldigten ihren Pokal-Helden mit einem umgedichten Song von Marius Müller-Westernhagen - und sogar Gerhard Mayer-Vorfelder stimmte die Schalke-Hymne »Blau und Weiß, wie lieb ich dich« an. »Es war ein wunderbares Pokalspiel. Das Finale in dieser Atmosphäre war ein würdiger Schlusspunkt, ein Highlight der Saison«, schwärmte der DFB-Präsident nach dem 2:0 des FC Schalke 04 im 58. deutschen Pokal-Endspiel.
Dritter Pokalsieg in der Geschichte der »Knappen«
Zuvor hatten 73.011 Besucher das Berliner Olympiastadion in ein Freudenhaus verwandelt, den dritten Cupcoup der »Knappen« nach 1937 und 1972 frenetisch gefeiert und auch die tapfer kämpfenden Unioner hoch leben lassen. Um 21.21 Uhr tanzten die 04-Profis, die eine Woche zuvor noch durch die Hölle gegangen waren, auf dem Rasen ausgelassen Ringelreihen, drehten Ehrenrunde um Ehrenrunde und tranken literweise Bier aus dem »Pott«, der ihre Tränen trocknen half. »Das ist ein ganz besonderer Moment. Das ist der erste Titel in meiner Karriere«, sagte der mit blauer Perücke verkleidete Kapitän und Abwehrchef Tomasz Waldoch heiser, aber überglücklich.
Dabei musste der verletzte Pole 90 »schlimme Minuten« am Spielfeld-Rand verbringen, ehe er doch als erster die Silber-Trophäe in den Abendhimmel recken durfte, weil die Kameraden es so wollten. »Der Trainer ist vor der Siegerehrung zu mir gekommen und hat gesagt: «Du gehst und nimmst den Pokal», sagte Waldoch gerührt. Selbst dass «MV», der Sieger und Besiegte unter einer Bier-Fontäne gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder geehrt hatte, ihn nicht erkannte, als er im zivilen grauen Anzug auf dem Podest auftauchte und den «Pott» haben wollte, amüsierte Waldoch mehr als es ihn irritierte. «Dabei hatte ich mir extra die Kapitänsbinde über den Ärmel gestreift.»
Versöhnung am frühen Sonntagmorgen
Mayer-Vorfelder indes (»Klar kenne ich Waldoch«) nutzte die Jubelstunden, um Irritationen auszuräumen, die nach dem dramatischen Bundesliga-Finale aufgekommen waren. Dass sich der DFB-Chef nach der Meisterschaft von Bayern München jubelnd mit den Bayern-Bossen in den Armen gelegen hatte, nahmen ihm die Schalker übel. »Ich halte das für eine schrecklich hochgespielte Sache«, meinte der DFB-Boss nur und versöhnte sich am frühen Sonntagmorgen mit den Pokalsiegern.
»Es war eine Supersaison. Nach der Enttäuschung war es unglaublich wichtig, dass wir was zu feiern haben«, betonte Ebbe Sand, der die Meisterschaft aber noch immer nicht aus dem Kopf hat. »Das kann ich erst, wenn ich die Schale in der Hand habe.« Torhüter Reck, jetzt dreimaliger Cupsieger, verteilte Komplimente an die ganze Mannschaft: »Applaus für dieses Team. Es hat Willen, Stärke und Klasse.« Der »gute Geist« Charlie Neumann knutschte und herzte alle, die ihm über den Weg liefen: »Hör mal, Schalke stand noch nie so gut da.«
Matchwinner Böhme, der mit einem Geniestreich Unions Torhüter Sven Beuckert in schwere Depressionen stürzte, als er den Ball mit links ins »falsche« Eck schlenzte (53.), und auch noch den Foulelfmeter ins Tor wuchtete, quälte in Anspielung an das Liga-Halali direkt nach Schluss nur eine Frage: »Ob zeitgleich noch irgendwo ein Spiel läuft.« Beim vorentscheidenden Kunststoß habe sich Böhme, ab Montag erstmals im Aufgebot von DFB-Teamchef Rudi Völler, erst kurzfristig entschieden, ob er selbst oder Andreas Möller schießen soll.
Union-Keeper nimmt Treffer auf seine Kappe
Genau dies verunsicherte Union-Keeper Beuckert so, dass er den Treffer auf seine Kappe nahm. »Das war überragend geschossen, aber ich hätte auch überragend halten können«, haderte der 27-jährige Sachse mit sich. Trost (die erste Europacup-Teilnahme) und Lob (für beachtliche Gegenwehr) erfuhren Beuckert und Co. von allen Seiten. »Wir haben uns sehr schwer getan in den ersten 25 Minuten. Da hat Union uns alles abverlangt«, lobte Schalkes Trainer Huub Stevens. Bei Aluminium-Treffern von Harun Isa und Bozo Djurkovic mussten die Schalker sogar auf das Glück zurück greifen.
Zweitliga-Aufsteiger Union wollte sich aber nicht mit Tränen aufhalten, träumte nach der großen Pokal-Nacht schon von neuen Heldentaten. »Wir haben mit dieser Truppe das Zeug, erstklassig zu werden. Zwar noch nicht im nächsten Jahr, aber in naher Zukunft«, benannte Trainer Georgi Wassilew das mittelfristige Ziel. »Das Finale war für den UEFA-Cup und die 2. Liga schon die richtige Probe.«
Ulli Brünger und Jens Mende, dpa