Die Begriffe wirken geheimnisvoll. "Mastercoach" heißt der eine. "Amisco Pro" der andere. Oder schlicht "sports analytics". Was sich dahinter verbirgt? Damit werden heutzutage die letzten Geheimnisse des modernen Fußballs gelüftet. Denn längst sind die Zeiten vorbei, als gegnerische Teams noch einen Spion in fremde Stadien entsandten, der sich auf kleinen Zetteln wirre Notizen machte und anschließend verschlüsselte Botschaften an den Trainer sandte.
Der aktuelle Hochgeschwindigkeitsfußball ist gläsern geworden, seit im Tribünendach installierte Kameras jeden Spielzug, jeden Laufweg, jeden Ballkontakt und jeden Zweikampf unter die Lupe nehmen. Möglich machen das so genannte Spielanalyse-Systeme, die auch in der Vorbereitung auf die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft eine tragende Rolle spielen.
Sensortechnik mit acht Kameras
"Wir werden uns auf die EM sehr professionell vorbereiten, auch wenn man Erfolg nicht planen kann", sagt Josef Hickersberger, Teamchef der österreichischen Nationalelf. Der 60-Jährige vertraut den Experten von "Amisco Pro", die mit acht unter dem Stadiondach montierten Kameras eine Sensortechnik einsetzen, die alle Spieler- und Spielbewegungen aufzeichnet. Wichtig: Diese werden nicht gefilmt, sondern die Daten werden aufgezeichnet, so dass eine zweidimensionale Animation aus der Vogelperspektive erfolgt, die mit dem Realbild synchronisiert wird. Klingt kompliziert? Ist es aber für die Trainer längst nicht mehr, der zwei Tage nach einem Spiel entweder die Kameraperspektive oder die komplette Spielübersicht anschauen können. Hickersberger jedenfalls ist nach Ansicht des Analysesystems zu dem Schluss gekommen, dass sich zur EM-Reife noch einiges verbessern muss: "Unser Gleichgewicht zwischen Defensive und Offensive stimmt noch nicht, wir leisten uns zu viele Ballverluste, die Abstände zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen sind zu groß." Und: "Wir haben keine Probleme mit der Kondition, sondern mit der Ökonomie, uns die Kräfte richtig einzuteilen."
Beispiel: 80. Spielminute, 2:1 durch Fabregas (Arsenal London) beim Spiel gegen Tottenham Hotspur
Dabei hilft inzwischen sogar das Wissenschaftsministerium, das Willi Ruttensteiner, dem technischen Direktor des Österreichischen Fußball-Bundes (ÖFB) in einem so genannten "Daten-Recherche-Projekt" unter die Arme greift, um ein Dossier und eine DVD von jedem Gruppengegner zu erstellen.
Hickersberger ist überaus angetan von der wissenschaftlicher Unterstützung und zeigt sich den Errungenschaften gegenüber äußerst aufgeschlossen. "Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück."
Klinsmann war der Vorreiter
Einer Devise, der sich einst auch Jürgen Klinsmann verschrieben hatte. Der Wahl-Kalifornier, Bald-Bayer und ehemalige Teamchef der deutschen Nationalelf entdeckte nach seinem Amtsantritt 2004 die moderne Analyse-Technik für den Deutschen Fußball-Bund. Bis dahin war noch Erich Rutermöller ausgezogen, um schriftlich und mündlich vor den Gegnern zu warnen. Heraus kamen bei der WM 2002 noch Hinweise, wie etwa die erhellende Erkenntnis vor dem Auftaktspiel gegen Saudi Arabien (8:0). "Die Nummer neun ist schnell und kann den Ball gut halten."
Damit gibt sich Joachim Löw längst nicht mehr zufrieden, wenn Chefscout Urs Siegenthaler unterwegs ist. Der findige Schweizer zerlegt ein 90-minütiges Fußballspiel stundenlang akribisch in seine Einzelteile - und dabei hilft die Düsseldorfer Firma "Mastercoach", die bei jedem Länderspiel einen Mitarbeiter für Siegenthaler abstellt. Christopher Clemens von "Mastercoach" gehört inzwischen sogar zur offiziellen DFB-Delegation - gemeinsam mit Siegenthaler hockt er am Laptop des Besprechungsraumes, der Dialog mit Löw, Hansi Flick oder Andreas Köpke ist rege.
Klare taktische Vorgaben
Für die Analysten geht es schließlich auch darum, den Spielern eine Präsentation zu verabreichen, die Stärken und Schwächen des Gegners visuell sichtbar macht. Ein auf den ersten Blick verwirrendes Laufprofil des Außenverteidigers oder bunte Balkendiagramme helfen manch einem Spieler vermutlich wenig. Jens Urlbauer, Geschäftsführer von "Mastercoach", schildert die Vorzüge solcher Systeme: "Es ist ein effizientes Werkzeug für moderne Trainingsarbeit, das mit einer auf den Punkt gebrachten Visualisierung auch die Spieler noch innerhalb einer Meisterschaft oder eines Turniers erreicht. Damit gibt Mastercoach den Trainern die Möglichkeit, im taktischen Bereiche oder in der Spielvorbereitung ihre Ziele klar zu formulieren."
Und das tun bei der EM mittlerweile fast alle Teilnehmer - EM-Gastgeber Schweiz hat sich schon 2004 in Portugal der Hilfe von Clemens und "Mastercoach" bedient. Genützt hat es freilich nichts: Genau wie die - ohne unterstützendes Analyse-System angetretenen Deutschen - schieden auch die Schweizer vor vier Jahren mit nur einem Punkt als Gruppenletzter aus.
In der Bundesliga ist die neue Technik gang und gäbe
Heute will niemand mehr auf die Computerspezialisten verzichten. Auch die Bundesliga bedient sich längst dieser Systeme, die pro Spielzeit rund 70.000 bis 100.000 Euro kosten. Eintracht Frankfurt und der VfL Bochum etwa arbeiten mit "Mastercoach", "Amisco Pro" wird vom Hamburger SV oder Bayer Leverkusen bevorzugt, Bayern München, Schalke 04, Werder Bremen oder Hannover 96 vertrauen "sports analytics".
Es war übrigens der tränenreich verabschiedete Ottmar Hitzfeld, der sich in seiner letzten Saison in München lange unbemerkt der modernen Technik verschrieben hatte. Zusammen mit Henke tüftelte der 59-jährige Lörracher stundenlang am Laptop, bediente sich bei der Spielerdatenbank, sah am Bildschirm auf eine so genannte "Heatmap", in Rotstufen gefärbte Hitzefelder, die ihm den Bewegungsradius seiner Spieler anzeigten. "Dass Michael Henke so ein Technikfreak ist, hat mir die Arbeit als Cheftrainer sehr erleichtert", lobte Hitzfeld einmal.
Um Lukas Podolski aber Beine zu machen, bediente er sich einer anderen Methode: Ihm zeigte man schlicht die Meisterschale auf einer Leinwand - das half mehr als der Mausklick am Computer. Doch Hitzfeld und Henke hatten die Daten stets in der Hinterhand - sie wussten dank eines digitalisierten Spielfeldes über Laufwege Spieltempo, Ballverarbeitung genau Bescheid, und natürlich waren auch zurückgelegte Laufstrecke, Maximal- oder Durchschnittsgeschwindigkeiten abrufbar.
Daten auch im Internet
Die Analyse-Systeme und ihre Resultate sind dabei längst keine streng geheime Wissenschaft mehr. Die Firma Castrol, Partner der Uefa, stellt auf einer eigens öffentlich gemachten Internetseite (www.castrolindex.com) wichtige Daten nach den Qualifikations- und Freundschaftsspielen der EM-Teilnehmer unmittelbar ins Netz. So drucken österreichische Zeitungen nach Länderspielen inzwischen nicht nur Einzelkritiken, sondern auch Laufleistungen der rot-weiß-roten Kicker ab. Allein die absolvierten Kilometer im modernen Fußball fördern Erstaunliches zutage: So legte Spielmacher Andreas Ivanschitz beim 3:4 im Test gegen die Niederlande sage und schreibe 12.363 Meter zurück, seine fleißigen Kollegen Jürgen Säumel (12.200) und Christoph Leitgeb (12.164) verbuchten ähnliche Werte, während bei den Oranjes Torjäger Jan Klaas Huntelaar mit 11.823 Metern am fleißigsten war.
Das sind Energieleistungen sondergleichen, bedenkt man, dass in den 70er Jahren noch ein "Hacki" Wimmer als Laufwunder gefeiert wurde, weil er sechs bis sieben Kilometer in einem Spiel schaffte - freilich nicht amtlich und erst recht nicht elektronisch vermessen. Die Computer sparen keinen und nichts aus: Auch die Geschwindigkeiten durften nach dem Länderspiel in Wien nicht fehlen: Sprinterkönig des Spiels wurde Ajax-Akteur John Heitinga, der mit maximal 32,4 Stundenkilometern unterwegs war. Der Bremer Wahl-Österreicher Martin Harnik brachte es auf 30,3 Stundenkilometer Topspeed.
Ein Torwart läuft knapp fünf Kilometer pro Spiel
Ähnliche Einsichten vermittelt Castrol auch vom 4:0 der deutschen Nationalelf in Basel gegen die Schweiz. Demnach war Michael Ballack am 26. März dieses Jahres mit 11.818 zurückgelegten Metern der Eifrigste, ohne allerdings wirklich auch nur einmal sein volles Sprintvermögen auszuschöpfen (Maximalgeschwindigkeit: 24,3 Stundenkilometer). Überhaupt war die deutsche Mannschaft damals viel unterwegs, Innenverteidiger Per Mertesacker immerhin 9701 Meter, Heiko Westermann 9581. Und selbst Torwart Jens Lehmann legte 4565 Meter zurück.
Das mag die größte Überraschung sein: Fast jeder mitspielende Torwart kommt in Länderspielen und Champions-League-Partien mittlerweile auf eine zurückgelegte Strecke zwischen vier und fünf Kilometern.
Während der Euro kann man solche und andere Daten selbst nachprüfen: Wer sich nach den EM-Spielen nicht nur für Tore und Gelbe Karten interessiert, der kann als Statistikfreak auf besagter Internetseite eben diese Daten sofort abrufen - und selbst ein bisschen Mastercoach spielen.