Das erste Spiel in einem Turnier ist immer das schwerste." Wenigstens diese viel benutzte Fußballfloskel werden wir jetzt nicht mehr hören müssen. Mit dem 2:1-Sieg der Ukraine gegen die Schweden ist die Auftaktrunde der EM abgeschlossen, alle Teams haben ihre Visitenkarte abgegeben. Zeit für eine erste Bestandsaufnahme.
Trotz des überraschenden Langweilers Frankreich gegen England (1:1) ist das sportliche Niveau schon recht gut, an Spannung und Dramatik fehlt es noch. Doch das kommt automatisch, wenn die ersten Entscheidungen fallen - spätestens am Mittwoch, wenn Mit-Favorit Holland gegen Deutschland schon um den Verbleib im Turnier kämpfen muss. Die Niederlage des Oranje-Teams war die größte von einer Reihe an Überraschungen, die es bereits jetzt gegeben hat. Das nervt die Tipper, tut dem Turnier aber gut. Alles in allem haben es favorisierte Teams noch schwer. Das liegt auch daran, dass es eine kleine Renaissance der Defensivtatik gibt: Dänemark (1:0 gegen Holland) oder Griechenland (1:1 gegen Polen) haben sich offenbar bei Champions-League-Sieger FC Chelsea abgeschaut, wie man als unterlegenes Team erfolgreich sein kann.
Die Titel-Favoriten
Drei Teams haben Fans und Fachwelt vor der EM zu den Titel-Favoriten gezählt: Spanien, Niederlande und Deutschland. Sportlich konnte bisher nur Spanien seine Ambitionen auf den Cup untermauern. Die Begegnung gegen Italien (1:1) war das bisher beste Spiel des Turniers - und auf ganz hohem Niveau. In ihrem "Tiki-Taka"-Stil ließen die Iberer den Ball nahezu perfekt laufen, aber sie offenbarten auch eine Schwäche: Durch den Ausfall von Stürmer David Villa fehlt ihnen der Vollstrecker. Ersatzmann Fernando Torres kann diese Lücke nicht füllen - weshalb die "Furia roja" zu Beginn auch ohne echten Stürmer spielte. Kann man so Titel gewinnen?
Weniger beeindruckend, dafür aber erfolgreicher spielte Deutschland. Gegen defensiv eingestellte Portugiesen taten sich Schweinsteiger, Lahm und Co. äußerst schwer. In der letzten Viertelstunde hatte Löws Elf zudem echte Schwierigkeiten, den Sieg zu sichern. Beruhigend ist daher vorerst nur, dass auch diese spielerisch verbesserte Nationalelf noch über die sprichwörtlichen "deutschen Tugenden" verfügt: niemals aufgeben, notfalls kämpfen und das Tor erzwingen. Diesmal kommt zudem die Hoffnung hinzu, dass das Spielerische noch kommen wird. Prognose: Mit Deutschland ist weiter zu rechnen.
Und möglicherweise können sie einen Mit-Favoriten im nächsten Spiel aus dem Turnier kicken. Die Holländer stehen schon mit dem Rücken zur Wand. Die Elftal ereilte gegen Dänemark das Bayern-Syndrom: überlegenes Spiel, gute Kombinationen, zahlreiche Chancen - und doch gelang kein Tor gegen geschickt verteidigende Dänen. "Robben brengt Oranje Bayern-pech" titelte dementsprechend die holländische Zeitung "de Volkskrant". Ausgerechnet gegen Deutschland müssen sie nun dieses "Bayern-Pech" abschütteln. Sollte es ihnen gelingen, dürfte das für den Schwung sorgen, den Oranje braucht, um weit zu kommen.
Die Gastgeber
Die Sache war klar: Von den beiden Gastgebern stellt Polen die weitaus bessere Mannschaft. Lewandowski, Kuba und Co. wurden sogar vorsichtig zu den Geheimfavoriten gezählt. Der Ukraine dagegen traute man gar nichts zu: Frankreich, England, Schweden - das hörte sich nach dem sicheren Vorrundenaus an.
Es gehört zu den Überraschungen, dass es nach dem Spiel vom Montagabend genau andersherum aussieht: Trotz schwacher Vorbereitung hielt die Ukraine dem Druck stand. Das enthusiastische Publikum im Kiewer Olympiastadion trug das Team zum Erfolg gegen beeindruckte Schweden. Dass auch noch das Idol Andrej Schewtschenko die Tore zum Sieg schoss, machte die Sache rund. Zudem haben die nominellen Favoriten der Gruppe, Frankreich und England, einen derart schwachen Eindruck hinterlassen, dass mit etwas Glück nun sogar der Schritt ins Viertelfinale möglich scheint.
Dagegen wirkt Polen schon fast verloren. Nur 20 Minuten ließ sich die Mannschaft im Eröffnungsspiel von der Begeisterung tragen. Danach kauften die Griechen - trotz des Titels von 2004 aktuell nicht gerade eine Fußball-Großmacht - den Rot-Weißen den Schneid ab. Auf die unerwartete Gegenwehr schienen die Polen nicht reagieren zu können. Das dürfte im anstehenden Spiel gegen die starken Russen kaum ausreichen. Sollte Polen verlieren, ist das Vorrundenaus ganz nah.
Die Geheimfavoriten
Enttäuschend war auch der Auftritt von Frankreich. Die "Équipe tricolore" wurde nach sicherer Qualifikation und erstklassigen Vorbereitungsspielen so oft als Geheimfavorit genannt, dass man sie eigentlich schon zu den echten Titelanwärtern zählen musste. Das hat sich mit Beginn des Turniers wieder geändert. Der Nichtangriffspakt gegen ebenfalls schwache Engländer hat jedenfalls wenig Hoffnung gemacht. Überraschend war vor allem, dass es für Ribéry, Benzema und Co. spielerisch kein Durchkommen gegen die englischen Verteidigungsketten gab. Dass die Franzosen so ins Titelrennen eingreifen können, scheint nicht möglich.
Dagegen hat Italien schwer beeindruckt. Die Azzuri - gemeinsam mit Frankreich die große Enttäuschung bei der WM 2010 - hielten gegen Spanien munter mit. Um den Regisseur Andrea Pirlo und Torwartlegende Gianluigi Buffon (beide von Juventus Turin) gibt es eine Reihe junger Spieler, die spielerisch stark sind. Vom berüchtigten "Catenaccio", der Sperrkette, war nichts zu sehen. In der Verfassung des ersten Spiels ist mit den Italienern zu rechnen - und eigentlich ist das keine Überraschung.
Ebenfalls stark - wie fast immer zum Turnierstart - spielen die Russen. Beim 4:1 gegen Tschechien waren sie spielerisch gut und torgefährlich. Allerdings: Das älteste Team des Turniers nahm sich sichtbare Verschnaufpausen. Es muss sich zeigen, wie weit die Luft bei den Russen reicht, wenn die starken Gegner kommen.
Und Portugal? Natürlich, Superstar Cristiano Ronaldo und Co. hätten gegen Deutschland nicht verlieren müssen. Doch während das deutsche Team den Sieg erzwungen hat, haderten die Portugiesen hinterher mal wieder mit ihrem Pech. "Sie sind ein Scheint-so-Team", hat es Argentiniens Trainerlegende Cesur Luis Menotti in seiner Analyse ausgedrückt. Es scheint so, als könne Portugal alles erreichen, meint er. Doch scheitern sie immer wieder am fehlenden letzten Willen. So ist es wohl auch diesmal.
Und der Rest?
Dass eines der weiteren Teams in den Kampf um den Titel eingreifen könnte, ist unwahrscheinlich. England, fast immer hoch gehandelt, aber stets ohne Erfolg, ist diesmal offensichtlich tatsächlich so schwach wie man es sogar auf der Insel selbst glaubt. Kroatien hätte die spielerische Stärke, wenigstens die nächste Runde zu erreichen, hat aber die wohl zu starken Spanier und Italiener vor der Nase. Griechenland und Dänemark werden sich freuen, sollten sie die Favoriten noch ein wenig ärgern können, und Schweden kommt - wie meistens - irgendwie gar nicht erst ins Turnier.
Bleiben noch die Iren: Die sind schon jetzt, so wird berichtet, die Europameister im Partymachen. Doch selbst Trainerlegende Giovanni Trappatoni wird ihr wackeres, aber biederes Team kaum zu einem Punkt führen können.
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