Vielleicht muss man in England beginnen, wenn man eine faire Bilanz des ersten Auftritts dieser deutschen Nationalmannschaft ziehen will. England, es sei noch einmal daran erinnert, hat noch nie eine Auftaktpartie bei einer Europameisterschaft gewonnen. Es zählt sich übrigens zu den Schwergewichten dieses Sports, ihre Premier League gilt weltweit derzeit als Maß der Dinge, was Kommerz und Eventcharakter anbelangt. Bis zur 92. Minute bangten die Three Lions also wie ein Zwergenstaat, ob es diesmal gegen Russland vielleicht tatsächlich gelingen würde, dieses 1:0 über die Zeit zu retten. Es hat, selbstverständlich, nicht gereicht. Der Ausgleich kam in der letzten Minute.
Es ist also nicht selbstverständlich, wenn nach dem 2:0 gegen die Ukraine einem die deutschen Nationalspieler in schwarzen Baseball-Mützen im Kabinentrakt gegenüber stehen und gelassen einen sogenannten Pflichtsieg rekapitulieren. Als kämen sie von einer Fortbildung. Es gilt das noch einmal zu betonen, denn die Tiefenentspanntheit, mit der Männer wie Kroos, Müller, Neuer oder Khedira ihr Tun moderieren, legt den Verdacht nahe, der Weltmeister spiele in dieser Vorrunde nur in Freundschaft. Hat ihm die Uefa in ihrem neuerdings aufgeblähten Format etwa schon einen Platz im Achtelfinale reserviert?

Hummels vor der Rückkehr ins Team
Das ist natürlich Quatsch, bereits die sehr hungrigen Polen werden Löws Kollektiv vor mindestens ebenso große Probleme stellen, wie die durchaus kantigen Ukrainer. Und es ist jetzt auch nicht so, dass sich diese Löw-Mannschaft in ihrem modifizierten EM-Gewand mit Ruhm bekleckert hätte. Bedenklich wackelte die Abwehr im ersten Abschnitt, was ja kein Wunder ist, bedenkt man, dass die Innenverteidigung mit Shkodran Mustafi neben Boateng und Höwedes und Hector außen sich auf dem Feld quasi erst kennen lernte.
Es wird bald weitere Veränderungen geben. Mats Hummels ließ in der Mixed Zone schon einmal wissen, dass er die Genesung als weitgehend abgeschlossen betrachtet. Das neuerdings ganz bayerische Weltmeister-Zentrum wäre dann wieder komplett. Der tapfere Mustafi, Schütze des ersten WM-Treffers, dürfte dann wieder ins zweite Glied treten.
Ohne Einsatzminute: Vorteil Gomez
In der Offensive brachte Löw die übrigen Verdächtigen aufs Feld, und vor allem einer setzte sich dann auch gleich dem üblichen Verdacht aus: Zwar lief Mario Götze auffallend viel, doch zusammen mit dem bienenfleißigen Müller und dem besorgniserregend unsichtbaren Özil entfaltete das Trio zu wenig Durchschlagskraft. Zwar war die Ballzirkulation tatsächlich ansprechend, wie allenthalben gelobt wurde. Doch allzu oft drangen die Deutschen nicht ins letzte Dritte vor. Es fehlte eine robuste Anspielstation im Zentrum.
Mario Gomez durfte sich deshalb durchaus auch ohne Einsatzminute als Gewinner fühlen. Die Dinge sind noch im Fluss in dieser Elf. Noch hat sich keine Stammelf herausgebildet. Löw wollte diesen ersten Auftritt ja ohnehin als den Beginn eines organischen Wachstums über vier Wochen verstanden wissen. Sich durch die Vorrunde kämpfen in viel beschworenen Abnutzungskämpfen, das war von Anfang an das Ziel gewesen. Sich fit machen für den Ernstfall.
Die Weltmeister kehren zurück
So blieb am Ende von diesem 2:0 vor allem ein Sprint übrig, der ihnen allen mehr Mut machte als all die anderen Kampfhandlungen zuvor. Über das ganze Feld war Bastian Schweinsteiger vor dem 2:0 gerannt, so dass mancher Reporter witzelte, das sei der längste Spurt seit dem Jahr 2008 gewesen, als Schweinsteiger gegen Portugal schon einmal das letzte Glied eines Konters bildete.
Durchaus spritzig wirkte der Kapitän beim Kurzeinsatz, man hatte ihm das nicht zugetraut. Es dürfte nicht mehr lange dauern, dann wird Löw auch ihm mehr Spielzeit zusprechen. Heimlich still und leise kehren die Weltmeister zurück. In spätestens zwei Wochen sollen sie wirklich fit sein. Dann beginnt die K.o-Runde. Cruise Control wird dann wohl nicht mehr reichen.
