Gut vier Monate vor Beginn der Fußball-EM hat Michael Ballack die Erwartungen gedämpft und die deutsche Nationalmannschaft nicht als ersten Titelanwärter bezeichnet. "Wir sind noch nicht auf dem Niveau, Favorit zu sein", sagte der DFB-Kapitän. Noch gebe es Defizite bei der "individuellen Klasse". "2010, bei der WM in Südafrika, da hoffe ich, dass sich die Spieler entsprechend entwickelt haben, dass man mit Frankreich oder Italien auch individuell den Vergleich nicht scheuen muss", sagte der wieder genesene Ballack, der sich stolz über sein beeindruckendes Comeback beim FC Chelsea London zeigte.
Die DFB-Auswahl hat laut Ballack seit der WM 2006 durchaus Fortschritte gemacht. "Jogi Löw hat viele Spieler herangeführt, und wir haben in der Breite zugelegt. Der Konkurrenzkampf ist da, die Mannschaft hat Selbstvertrauen. Jetzt müssen wir abwarten, wie die Form vor dem Turnier ist, wie jeder Einzelne drauf ist und wie die Spieler harmonieren", sagte Ballack mit Blick auf die EM vom 7. bis 29. Juni in Österreich und der Schweiz. Er warnte davor, sich "national Honig um den Mund zu schmieren". Es sei auch wichtig, zu sehen, "wie wir im Ausland eingestuft werden. Und da haben wir doch Marken hinterlassen und mit guten Spielen beeindruckt, sodass wir auch dort für die EM zum Favoritenkreis gezählt werden".
Ballack sieht die Mannschaft noch nicht auf
dem Niveau, um als unbestrittener Titelanwärter anzutreten. Das müsse aber das Ziel sein, forderte der Kapitän. "Wir sind nie wirklich, auch bei der WM 2002 nicht, mit dem Anspruch hingefahren zu gewinnen. 2006 war das zwar die Zielsetzung, aber realistisch betrachtet, wenn man das Niveau der Mannschaft gesehen hat – Weltmeister zu werden, das ist natürlich noch mal ein Unterschied", sagte Ballack, der die Nationalmannschaft aber auf einem guten Weg sieht. "Bei der individuellen Klasse müssen wir alle versuchen, einen Schritt nach vorn zu machen, um schließlich zu einem großen Turnier zu fahren und zu sagen: Wir sind diesmal der Favorit."
Bei der Diskussion um die Position von Nationaltorhüter Jens Lehmann, der beim FC Arsenal derzeit nur Reservist ist, habe auch dessen Absage an Borussia Dortmund seine Meinung nicht geändert, sagte Ballack: "Ich denke, dass Jens unsere Nummer eins ist, der mit Abstand beste Torhüter, den wir im Moment haben. Wenn er sich am wohlsten fühlt, wenn er in London bleibt, dann muss man ihm das zugestehen. Ich weiß, dass Jens auf die EM brennt. Dafür wird er alles tun und auch die beste Entscheidung für sich treffen."
Dass er es bei Chelsea in wenigen Spielen
vom Dauerverletzten zur festen Größe und zum Spielführer gebracht habe, darauf sei er stolz, sagte Ballack, der seit seinem Comeback kurz vor Weihnachten bereits zwei Treffer erzielte. "Durch unsere vielen Verletzten bei Chelsea bin ich direkt wieder in die Verantwortung geraten, andererseits tut man sich leichter, wenn man in eine Mannschaft zurückkehrt, die keine Verletzungssorgen hat", sagte Ballack, für den die Ernennung zum zeitweiligen Kapitän nach den Ausfällen von Abwehrchef John Terry und dem Mittelfeldstrategen Frank Lampard völlig überraschend kam. Über Lampards Rückkehr mache er sich keine Gedanken: "Die Konkurrenz im Mittelfeld wird groß. Ich bin aber entspannt, denn ich weiß, was ich kann. Für mich ist das Zusammenspiel mit guten Spielern kein Problem."
Die Berufung Jürgen Klinsmanns zum neuen Trainer des FC Bayern München ist laut Ballack eine überraschende, aber "gute Lösung". Jürgen Klinsmann sei ein Mann, der für Neuerungen stehe. Er sei jemand, der sich immer mit den Besten messen wolle und die größtmögliche Herausforderung suche, und die finde er beim FC Bayern München. Sein eigener Wechsel zum FC Chelsea sei die "richtige Entscheidung" gewesen, sagte Ballack.
"Ob er seine Karriere auf der Insel beenden werde, ließ der 31-Jährige offen. "Im Moment bin ich hier vollkommen zufrieden. Ich spiele bei einem tollen Club und will hier noch viel erreichen. Was kommt, wenn mein Vertrag ausläuft, werden wir sehen."
Henning Hoff/DPA