Werder Bremen Vor dem Sturm

Sie stehen an der Tabellenspitze und spielen den schönsten Fußball. Nun beginnt die Rückrunde, und das Team von Thomas Schaaf kämpft nicht nur um den Titel - sondern auch um die Zukunft des Klubs

Das also sind sie: die Besten der Bundesliga. Die Bayern-Stars haben vielleicht mehr Flair, ganz sicher aber vier Punkte weniger. So lieben es die Bremer. Und das Schönste ist: Sie starten vollkommen zu Recht als Tabellenführer ins neue Jahr, mit sattem Vorsprung auf die Meute aus München, Stuttgart und Leverkusen.

Die Profis der anderen Klubs staunen. Werder macht die Räume so eng, berichten sie, dass man nicht mal mehr zum Atmen Luft bekommt. Und wenn die am Ball sind, geht das bapp, bapp, bapp, die Kugel flitzt durch ihre Reihen, sie spielen stille Post, ohne dass man eingreifen kann, und am Ende kommt der Pass in die Tiefe dorthin, wo man ihn am wenigsten erwartet, und diese fliegende Schusswutz namens Ailton bringt Tor und Verderben.

Werder Bremen ist also allen Ernstes Titelkandidat, 45 Tore hat der Klub in der Vorrunde geschossen, sagenhafte 39 Punkte gesammelt. Bald wird die Hatz eröffnet, "Bild" bläst schon zum Halali. "Werder taumelt", glaubte man aus dem Trainingslager vermelden zu müssen, wo es noch gar nichts zu taumeln gab.

Es ist der zweite Tag in Belek, Türkei. Trainer Thomas Schaaf sitzt im Foyer des Hotels "Arcadia". Draußen scheint die Sonne, 18 Grad, er hat seinen Kapuzenpullover über die Schultern geworfen und guckt in die Ferne. Das macht er am liebsten. Den Horizont prüfen. Die Sonne blendet ihn, er wendet den Blick nicht ab.

Ein paar Meter weiter wuchtet eine Putzfrau ihren Staubsauger ins Leben. Rücksicht nimmt keiner auf Werder. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht weggesaugt werden", sagt Schaaf und guckt grimmig, wie bei vielen seiner Pointen. Das beherrscht er gut, grimmig gucken.

Werder taumelt?

Schaaf strahlt mehr Standhaftigkeit aus als der Roland vor dem Bremer Rathaus. Seit 1972 ist der Mann im Verein. Viele Spieler sind wie er: geduldig, aufrecht, gescheit. Bei Werder redet man leise. Man hört sich sogar zu.

Natürlich erklärt sich alles aus der Geografie. Zwischen Elbe und Ems läuft die Brandung der Republik gemächlich aus, und die Bürger des Stadtstaats halten einiges darauf, Aufregung nicht nötig zu haben. Sie sind Hanseaten, aber kleinmäuliger als Hamburger Pfeffersäcke.

Dabei sind die Ansprüche an der Weser nicht bescheidener. Zwar übersieht man Werder regelmäßig, wenn es um die gefühlten Favoriten geht, zu schmal scheint das Budget, ganze 32 Millionen Euro, damit bewegt man sich im Mittelfeld der Liga. Aber Bremen war dreimal Meister, zuletzt 1988 und 93, als es noch Otto Rehhagel und Willi Lemke gab und viel Klassenkampf-geschrei gen München hallte.

Als Otto der Große nach 14 Jahren ging, war der Kader ausgezehrt. Es kamen Trainer und gingen wieder, in schneller Folge, zuletzt Felix Magath. Bis Schaaf aufrückte, im Mai 1999, und kurz darauf Manager Klaus Allofs dazustieß, der genauso in sich ruht. Fast fünf Jahre ist das jetzt her.

Seitdem klettert Bremen wieder nach oben, Platz 13, 9, 7, 6, 6. Dabei haben sie auf dem Weg Pizarro, Rost, Frings, Bode verloren, und trotzdem ist Werder nur stärker geworden. Allofs sagt, "wir hatten bei der Spielersuche auch Glück". Andere Vereine kaufen dreimal so viele Neue für sechsmal so viel Geld und haben niemals Glück. Vielleicht hilft dabei ja doch so etwas Altmodisches wie Ahnung, Gespür, Vision? Allofs, 47, war mal ein erstklassiger Stürmer; kein Bomber, er witterte Chancen. Heute nützt ihm unter anderem, dass er aus seiner Zeit in Marseille noch Französisch spricht.

Vor dieser Runde hat er die Herren Ismael und Davala geholt: zwei reife Spieler, die bei ihren Klubs in Ungnade gefallen waren, dazu Andreas Reinke, einen 35-jährigen Torwart aus Spaniens zweiter Liga, der mal mit Kaiserslautern abstieg, dann Meister wurde und längst die Unerschütterlichkeit eines Felsens verströmt.

Darin gleicht er seinem Trainer. Unter Rehhagel beharkte Schaaf einst die rechte Außenbahn; nach Spielen war er kaum gefragt. Wenige trauten ihm zu, ein Chef zu werden, und jetzt staunen sie in Bremen über seine Entwicklung. Im Gespräch wechselt der 42-Jährige nach Belieben die Tonlage, er kann ironisch sein, analytisch oder einschläfernd, ganz, wie es ihm behagt. Als fade empfindet ihn nur, wer Christoph Daum für anregend hält.

Schaafs Tag beginnt in Belek um zehn vor sieben, er joggt erst mal eine Runde, lange genug, dass ihm am Mittag die Knochen wehtun, es sind müde Knochen, von 262 Bundesligaspielen ausgelaugt. Die Gedanken laufen mit, was wäre, wenn?, immer laufen sie mit. Er hat viele Talente in seinem Kader, aber sie zwingen sich nicht ins Team. Zwei, drei Ausfälle kann Werder verkraften, dann werden Männer auflaufen, von denen einige zu grün sind, andere ohne Klassenachweis. Ob die das Niveau der Stammspieler halten können? Das wäre ein Wunder.

Denn so einer wie Johan Micoud, der Spielmacher, wäre nicht zu ersetzen. Vor dem ersten Spieltag der Saison begann er mitten im Training mit Schaaf zu diskutieren; eine Viertelstunde lang standen die anderen herum, während Coach und Inspirator die richtige Taktik aushandelten. Am nächsten Tag gewann Werder - mit 3 : 0 bei Hertha BSC.

Micoud sieht aus

wie der junge Julius Cäsar aus einem "Asterix"-Comic, und sein Herrschaftsstil ist subtil. "Es sind oft kleine Sachen, die ich den jungen Spielern vermittle", sagt er, "zum Beispiel, auf ein absolut präzises Abspiel zu achten. Diese Details machen den Unterschied aus."

Das Spiel der Bremer steckt voller solcher Feinheiten. Allein Micoud, 30, kennt ein Dutzend Arten, sich samt Ball an einem Gegner vorbeizuschleichen, und dabei kartografiert er Gelände, Spieler und Gassen. Wenn es im Team eine Diva gibt, dann ist es er, mit seinem Stolz, Kunstsinn und dem Prinzip, nur in seiner Muttersprache Interviews zu geben. "Ich will die richtigen Worte finden", sagt er. Der Franzose leidet, dass ihn sein Nationaltrainer Santini nicht mehr einlädt. Er stammt wie Zidane aus dem Fußballinternat von Cannes und spielt nicht viel schlechter.

Links hinter Micoud schiebt Fabian Ernst gleichzeitig Wache und heckt selbst Teufeleien aus. Hellwach und stark, besitzt er Gefühl im Fuß und Härte beim Grätschen. Ernst war einst beim Hamburger SV durchgefallen und jetzt, mit 24 Jahren, drängt er in die deutsche Nationalelf. Hoch die Stirn, fest der Blick, sagt Ernst mit tiefer Stimme: "Es ist wichtig, dass du einen Trainer hast, der dir Fehler erlaubt." Neben ihm wuselt der listige Ungar Krisztian Lisztes; was die beiden durchwinken, räumt der stille Kapitän Frank Baumann auf, auch er Nationalspieler. Bei diesen vieren im Mittelfeld schlägt Werders Herz. Sie richten die Tafel für die eigenen Stürmer. Ailton zum Beispiel, der bis Weihnachten 16 Tore in 16 Spielen erzielt hat.

Der aber wird weg sein nach dieser Saison, wie Abwehrrecke Mladen Krstajic nach Schalke wechseln, wo er das Doppelte verdient, mehr als drei Millionen Euro im Jahr. Ailton sitzt im Wohnzimmer seines Hauses im Bremer Umland und futtert schwarze Bohnen, Rindfleisch und Reis, während ihm seine Tochter Alexandra auf dem Schoß herumturnt. In einer Art Herrgottswinkel hinter ihm, Ailton selbst gewidmet, hängt neben Bildern des Angreifers das Mannschaftsfoto von Werder. "Wenn wir in die Champions League kommen, kann ich Bremen glücklich verlassen", sagt Ailton zwischen zwei Bissen. Er fühle sich dem Klub verpflichtet, seit fünf Jahren ist er hier, die Menschen lieben ihn. Nur zahlt Schalke eben mehr.

Das ist das Gesetz des Marktes, auch bei manchem Mitspieler wächst mit dem Punktekonto die Gier. Selbst Nachwuchsleute pokern schon um neue Verträge. Dabei hat Werder zurzeit keinen Schimmer, wie viel Geld am Saisonende in die Kasse gespült wird. Schlimm genug, dass die Zukunft der TV-Einnahmen ungewiss ist - lediglich Meister und Vizemeister qualifizieren sich sicher für die Champions League, wo die ersehnten Millionen sprießen. Bis zum Mai blüht erst mal nur die Fantasie. Bremer aber sind keine Börsianer. Werder wirtschaftet anders als die meisten Konkurrenten. "Wir haben bisher keine Spieler auf Kredit gekauft und uns nie bewusst verschuldet", sagt Jürgen L. Born. Werders Finanzchef war 30 Jahre lang für eine Bank in Südamerika tätig, er ist Honorarkonsul von Uruguay, hat Revolutionen erlebt und sagt, um die Vorsicht zu erklären: "Die Imponderabilien im Fußball sind grenzenlos. Es gibt vieles, was man weder steuern noch korrigieren kann." Solche Leute lotsen Werder.

Zwar wünschen sich Schaaf und Allofs nun den Nationalspieler Miroslav Klose als Ersatz für Ailton, doch der kostet fünf Millionen Euro Ablöse, angeblich 20 Millionen insgesamt. So einer ist eigentlich nicht drin. Seit Dezember immerhin ist die Profi-Abteilung als KG eigenständig - man kann nunmehr Aktien an einen Investor ausgeben. Ein solcher muss allerdings erst gefunden werden. Sonst wird sich Werder Klose schlicht nicht leisten wollen.

Allofs ist unter Druck. Verträge weiterer wichtiger Spieler laufen aus, Stars wie Micoud schauen kritisch, ob der Kader verstärkt wird. "Ich zeige zurzeit in Verhandlungen gerne auf die Tabelle", sagt Allofs. Die Perspektive, sich oben festzusetzen, ist günstig wie lange nicht. Die Branchenriesen aus Dortmund, Berlin, Hamburg und Schalke haben sich in ihrer Personalpolitik verdribbelt. Was, wenn die Hasardeure zurückkommen? Ohne "eine Prise mehr Risiko", wie Schaaf das nennt, dürfte Werder dann gefleddert werden.

Wenige Stunden später wird der Trainer seinen Vertrag verlängern, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Schaaf sieht unerklärlich gelassen aus. Klarheit sei das Wichtigste, sagt er. Klarheit und Ruhe. Ein guter Start in die Rückrunde würde helfen. In den vergangenen beiden Jahren haben sie den verpatzt. Und nun? "Wir sind gefestigter als früher", sagt Johan Micoud. Und Fabian Ernst erzählt, die Spieler hätten begriffen: "Von allein geht gar nichts."

Am Samstag, gegen Hertha BSC, beginnt die gnadenlose Jagd. Man könnte Werder die Daumen drücken.

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Rüdiger Barth

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