Schon das Singen der Nationalhymne ist in der Favela Mangueira anders. Die Menschen singen hier durcheinander. Sie singen nach Lust und Laune. Selbst die kleinen Kinder singen mit. Aber sie stehen nicht in Reih und Glied. Sie singen auch nicht andächtig. Sie laufen dabei fröhlich herum, und ein älteres Paar tanzt dazu.
Auch das Public Viewing ist hier anders. Die Leinwand steht nicht auf einem Platz oder in einem Park. Sie steht mitten auf der Straße. Autos können nicht mehr durch. Als Roadblock dient ein Tisch, ähnlich einem Altar, auf dem eine überdimensionierte Trophäe steht, der WM-Pokal. Über der schmalen Straße am Eingang der Favela sind Tücher gespannt, grüne und gelbe, wie ein Zelt. Es ist die Zeit der WM. Es könnte auch Karneval sein.
WM-Tickets kann sich keiner leisten
Man geht die Straße weiter, den Berg hinauf, und in jedem Geschäft steht ein Fernseher, beim Schuster, beim Krämer, beim Friseur. Und vor jedem dieser Fernseher sitzt eine Traube Menschen. Da sitzen die Alten, in der ersten Reihe, manche mit Gehstock und Tamburin. Da sitzen die Jungen auf dem Kantstein, mit einem Ball zwischen den Beinen. Da sitzen Mädchen im Teenageralter, sie halten ihre Babys im Arm. An Tagen wie diesen kommt die Favela zusammen.
Mangueira liegt direkt am Maracaná-Stadion in Rio de Janeiro. Die Menschen könnten sich Tickets für WM-Spiele nicht leisten, aber die Stimmung ist besser als drüben in der Arena. Der laute Fernsehkommentar sorgt für Stadionatmosphäre. Aus einigen Häusern dringt Rapmusik. Haschschwaden wabern durch die Gassen. Vor einem Laden sitzen Drogendealer in gelben Nationaltrikots und etwas weiter dahinter die uniformierten Polizisten der Sondereinheit UPP. Die einen wissen, was die anderen tun. Heute sind alle beim Fußball.
Verlieren? Gibt es nicht
Die ersten zehn Minuten sind die Leute still, fast andächtig still. Dann trifft Kapitän Thiago Silva zum 1:0 und der Jubel bricht aus, das Tröten, das Trommeln, und von nun an herrscht Partylaune. Böller explodieren, eine Percussion-Band beginnt zu spielen. Der Sieg ist ihnen nicht mehr zu nehmen.
Etwa die Hälfte der Zuschauer sind Frauen. Und sie sind leidenschaftlicher. Sie schreien lauter. Sie jubeln lauter. Sie springen auf und keifen, als der Kolumbianer Juan Zuniga in Neymars Rücken springt. Schimpfwörter, die man nicht unbedingt widergeben sollte. Man möchte jetzt nicht Juan Zuniga sein.
Man findet hier keinen, der auf Kolumbien setzt, keinen der die Niederlage auch nur in Betracht zieht. Trotz bisher mäßiger Leistungen setzen alle voller Selbstgewissheit auf Brasilien. "Siehst du, ich habe Recht", sagen sie nach den Toren und dem erstmals starken Spiel. "Der Riese erwacht. So langsam kommen wir in Fahrt. Jetzt ist Deutschland dran", sagen sie.
"Wir müssen für Neymar kämpfen"
Jeder, den man fragt, tippt im Halbfinale auf Brasilien. Zweifel gibt es nicht. Die WM ist jetzt - nach diesem befreienden Spiel - endlich in ihrer Hand. "Wir müssen nur Müller eng decken", raten sie. "Wir müssen das Mittelfeld dicht machen." Vor allem sagen sie: "Wir müssen für Neymar kämpfen." Es gibt keine größere Motivation als diese: Der Star ist draußen, ihm wurde der Rücken gebrochen. Jetzt werden wir zusammenstehen, und Deutschland wird es zu spüren kriegen.
Das Auswärtige Amt warnt vor dem Betreten der Favelas. Man kann das so sehen. Es gibt hier Drogenhandel und manchen Alkoholexzess. Man kann die Gefahr in den Mittelpunkt stellen. Aber auch die Freude, das Leben, die Begegnung. Die Menschen sind gastfreundlich, sie laden zu Bier und zum Kindergeburtstag ein. Sie unterhalten sich angeregt und fachkundig mit den Gästen über Fußball, über Poldis Tweets und Kroos’ Wechsel zu Real Madrid. Sie laden zum Tanzen ein, sie laden nicht nur ein, sie greifen sich die Gäste und tanzen mit ihnen einfach in die Nacht hinein.
Brasilien verliert nicht
In einer Woche steigt hier die größte Festa. Dann werden sie Mangueira ganz in gelb und grün schmücken. Dann findet nur 500 Meter entfernt das Finale statt. Sie können das Maracaná von hier aus sehen. Sie können es fast greifen. Am Abend leuchtet es wie ein Raumschiff. Es ist ihre Heimat. Hier gingen sie früher ins Stadion, hier sahen sie Pelé und Zico, als der Besuch umgerechnet nur einen Euro kostete. Die Zeiten sind vorbei, aber die Party lassen sie sich nicht nehmen.
Und wenn Brasilien verlieren sollten? – Brasilien verliert nicht. Aber sollte es doch dazu kommen? "Dann sind wir kurz traurig", sagt Rafael, der Barbesitzer. "Aber dann ist auch wieder Festa. In Mangueira ist immer Festa."