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WM-Erinnerungen – Deutschland 1974 Hungerstreik in St. Andreasberg

Auf Verschickung im Harz und die TV-Übertragung des Endspiels zwischen Deutschland und Holland in weiter Ferne – stern-Autor Ingo Scheel über seinen WM-Sommer '74 im Landschulheim.

Es war bei einem unserer traditionellen London-Trips, da meinte mein alter Freund Sven trocken zu mir: "Inge, das war deine WM, oder?" Gemeint war das Turnier 1974. Sven und ich hatten Paninibilder zum Tauschen mit nach England genommen. Am Vorabend hatten wir Paul Weller in der Royal Albert Hall gesehen, am Morgen danach wohnten wir unser Zimmer in Earl’s Court ab, schauten "Homes under the Hammer" und tauschten Klebebildchen. Landeten schließlich bei Fußballfragen und hatten flugs die Klasse von 1974 zu fassen: Wer war Torschützenkönig? Wer schoss die deutschen Tore gegen Australien? Für wen spielte Seguin und wer beendete Dino Zoffs 1143 Minuten lange Serie ohne Gegentor? Ich wusste jede Antwort.

Nachtwanderungen! Keine Eltern! Mädchen!

"Inge, das war deine WM, oder?" sagte Sven. Ja, in der Tat, das war sie, und das, obwohl ich so wenig davon gesehen habe wie in den folgenden Jahren nie wieder. Der Grund: Verschickung. Jugendreise. Drei Wochen im Landschulheim St. Andreasberg. Wir hatten es finanziell nicht allzu dicke zu Hause, da traf es sich, dass die Howaldtwerke Deutsche Werft in Kiel, wo meine Mutter im Büro arbeitete, seinen Angestellten Urlaube für die Kids sponsorten. Das Ziel im WM-Jahr: St. Andreasberg. Nachtwanderungen! Keine Eltern! Mädchen! Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Dabei spielte das Fußballturnier zunächst gar keine so große Rolle. Zu Hause hatten wir zwar ein Senfglas mit "Tipp&Tapp" drauf, aber die eigene Karriere zwischen den Pfosten von SV Ellerbek sollte erst ein paar Monate später beginnen. Auch die Liebe zum HSV war noch nicht entbrannt.

"Bettzeit nach 22 Uhr – so schmeckt die Freiheit"

Für uns in St. Andreasberg fing das Turnier – zwischen Tagen mit Wanderungen und Bolzen auf dem Schotterplatz (Tore mit Netzen!), Cordon Bleu mit Leipziger Allerlei und Sunkist in der Pyramidenpappe – erst mit der zweiten Runde an. Deutschlands 2:0 gegen Jugoslawien hatten wir nur am Rande mitbekommen, das nächste Spiel gegen Schweden durften wir im Tagesraum zusammen gucken. Ich war zunächst so halb bei der Sache, zwischen dem Jungsflur im ersten und der Mädchenetage im zweiten Stock hatte Angela Behrensmayer mir so etwas wie einen Kuss auf die Wange gegeben. Das Spiel dann ein torreicher Knaller mit sechs Buden, lange Zeit offen, erst gegen Schluss machten Grabowski und Hoeneß das Ding mit 4:2 klar. Bettzeit nach 22 Uhr, so schmeckt die Freiheit. Vier Tage später waren wir schon nicht mehr so dicht am Geschehen. Und Angela würdigte mich auch schon keines Blickes mehr. War ich ihr mit meinen zehn Jahren dann doch zu jung?

Endspiel-Guckverbot in St. Guantánamo

Wir besichtigten ein kleines Bergwerk und gingen anschließend noch, natürlich, wandern. Der Plan, zum Anstoß des Spiels gegen Polen wieder im Heim zu sein, schlug fehl. Irgendwie verliefen wir uns, sahen am Wegesrand ein paar Campern über die Schulter, die auf ihrem winzigen Nordmende-Fernseher mit Batteriebetrieb den Kick verfolgten. Man erkannte nicht allzu viel, außer dass es tierisch regnete. Deutschland siegte 1:0, wussten wir später. Finale! Leider ging es in der Nacht vor dem Endspiel gegen Holland mit uns völlig durch und wir wurden bei einem nächtlichen Ausflug ins obere Stockwerk erwischt. Die drakonische Strafe: Endspiel-Guckverbot am Sonntag drauf. Antiautoritäre Erziehung hin, der Geist von 1968 her – das hier war Guantánamo. Härter ging es nicht.

Hungerstreik im Achterzimmer

Keine Ahnung, wo mein zehnjähriges Ich diese Idee herholte, aber meine Gegenmaßnahme stand fest: Hungerstreik! Damit würden wir die Erzieher klein kriegen. Gut, wenn man so eine Idee nach dem Mittagessen hat. Der Magen ist noch entspannt gefüllt. Nur: Hungerstreik nach dem Mittag, Anstoßzeit um 16 Uhr – würde überhaupt jemand merken, wenn wir dazwischen nichts essen? Geschweige denn, sich davon beeindrucken lassen? Eben. Während wir im Achterzimmer dem Kickoff entgegendämmerten, kam Jens Roggenpohl ins Zimmer, mit einer Mettwurststulle in der Hand. Ich entriss sie ihm und schleuderte sie mit den Worten "Mann, Hungerstreik!" in den Papierkorb. Irgendwer hatte schließlich ein Transistorradio, einen Grundig Yachtboy oder sowas in der Art, und wir hörten das Finale im Radio. Im Torjubel über Breitners 1:1 stieß einer von uns das Ding jedoch von der Bettkante. Sendeschluss. Das war es dann auch mit dem Radio. Stunden später erfuhren wir vom 2:1-Sieg der Deutschen. Weltmeister. Wir. Hungerstreik, ade. Essen fassen.

Manisch an der Geschichte des Turniers klebend

Es müssen diese vielen verpassten Momente gewesen sein, die mich in den Monaten danach geradezu manisch an der Geschichte des Turniers kleben ließen. Erst gab es Ernst Hubertys WM-Buch, später noch eins von Hennes Weisweiler. Kurz danach machte ich ein erstes Training bei SVE. Bei der ersten Weihnachtsfeier dort gab es ein WM-Quiz und ich war der Einzige im ganzen Vereinsheim mit 15 richtigen Antworten. Der 1. Preis: ein weiteres WM-Buch. Unterm Tannenbaum lag schließlich der Original Telstar WM-Ball. Ich streichelte die magische Kugel mit Wasser in den Augen, während Opa Kööm und Oma Eierlikör tranken.

WM 1974 – kaum was gesehen und doch alles im Kopf. "Inge, das war deine WM, oder?", fragt Sven dreieinhalb Dekaden danach. Ja, sage ich, das war sie.

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