Die WM in Katar ist schon jetzt in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Die Diskussion um Menschen- und Minderheitenrechte im Gastgeberland. Die Ausbeutung von Wanderarbeiten beim Stadionbau. Der verrückte Zeitpunkt im Winter. Zuletzt das Fifa-Verbot der "One-Love-Binde"…
Eigentlich sollte spätestens mit dem Eröffnungsspiel der Sport im Mittelpunkt stehen. Doch auch dort setzt die umstrittene WM neue Maßstäbe. Schon am zweiten Spieltag zeigt sich eine Besonderheit des Turniers in der Wüste: Die Spiele dauern alle außergewöhnlich lange. Nachspielzeiten von acht, neun Minuten pro Halbzeit sind keine Seltenheit, sondern offenbar die neue Regel.
Besonders offensichtlich wurde das beim Auftaktspiel der englischen Nationalmannschaft gegen den Iran. Sagenhafte 24 Minuten Nachspielzeit wurden beim 6:2-Sieg der Engländer absolviert. Zehn in der ersten, 14 in der zweiten Halbzeit. Mit dem Effekt, dass der letzte iranische Treffer von Mehdi Taremi (90+13) das späteste Tor bei einer Weltmeisterschaft in der regulären Spielzeit war, das seit der detaillierten Datenaufzeichnung 1966 gemessen wurde. So hat es jedenfalls der Datendienstleister Opta auf Twitter vorgerechnet.
Kaum war das Spiel beendet, kam es bei der folgenden Partie Niederlande gegen Senegal ebenfalls zu einem späten Treffer, die Entscheidung zum 2:0 durch den Niederländer Davy Klasen (90+9) fiel erst in der ungewohnt späten 99. Spielminute.
Den Fans aus der Bundesliga sind solche Nachspielzeit-Dimensionen weitgehend fremd. Dort kommt es schon zu erstauntem Raunen, wenn auf der Tafel am Spielfeldrand mal eine 5 oder eine 6 auftaucht. Aber 10 oder 14 Minuten? Was soll das?
Fifa will in Katar ein Zeichen in Sachen Spielzeit setzen
Dabei hatte Fifa-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina bereits vor dem Turnier darauf hingewiesen, dass der Fußballweltverband in Katar grundsätzlich auf die effektive Spielzeit bei den Paarungen achten will. "Wir werden die Nachspielzeit sehr sorgfältig kalkulieren und versuchen, die Zeit auszugleichen, die durch Zwischenfälle verloren geht", sagte Collina. "Wir wollen nicht, dass es in einer Halbzeit nur 42 oder 43 Minuten aktives Spiel gibt, das ist nicht akzeptabel. So solle die Zeit, die durch Torjubel, Auswechslungen, Verletzungen oder Platzverweise verloren gehe, in jedem Fall nachgespielt werde. "Sieben, acht, neun Minuten Nachspielzeit", seien in einem normalen WM-Spiel in Katar durchaus zu erwarten.
In der Partie zwischen England und Iran wurde diese grobe Maßgabe nun sogar gleich in beiden Halbzeiten überboten – allerdings auch wegen des sehr ereignisreichen Spiels. Zu den insgesamt acht Toren kamen unter anderem noch eine längere Behandlungspause für den verletzten iranischen Nationaltorhüter Ali Beiranvand und eine Entscheidung durch den Videobeweis, bei der sich Referee Raphael Claus eine Szene selbst noch einmal ansah.
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Generell ist die effektive Spielzeit beim Fußball deutlich kürzer als die jeweils 45 Minuten pro Halbzeit versprechen. Selbst die von Colina angepeilten 43 Minuten aktives Spiel sind ein reiner Fantasiewert. Die spanische Sportzeitung Marca hat dazu im Juni eine Analyse von Partien aus Europas Top-Ligen durchgeführt (Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Italien) und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Ball pro Partie maximal 52 Minuten tatsächlich rollt. Collina will nun bei der WM auf immerhin rund 60 Minuten Netto-Spielzeit kommen. Bei der letzten WM habe man bei 57 Minuten gelegen.
Zur Wahrheit über die vergleichsweise kurze effektive Spielzeit beim Fußball gehört allerdings auch, dass die Teams inzwischen extrem versiert darin sind, einen Vorsprung über die Zeit zu retten. Da werden Bälle beim Einwurf drei Mal weitergereicht, hier am Trikot gezupft, um ein taktisches Foul zu ziehen, und dort eine letzte Einwechselung gemacht, um – wie es so schön heißt – "noch einmal an der Uhr zu drehen". Und wer jemals die geradezu wissenschaftliche und Minuten währende Vorbereitung des Torhüters einer führenden Mannschaft vor einem Abstoß in der Nachspielzeit beobachtet hat, weiß, wie sehr solche Nickeligkeiten an den Nerven zehren können
Insofern sind die Bemühungen der Fifa um eine Verlängerung der Spielzeit durchaus zu begrüßen. Mehr Zeit heißt eben auch: Mehr Zeit, Tore zu erzielen. Gut möglich also, dass der der historische Treffer von Irans Mehdi Taremi in der 103. Minute der regulären Spielzeit bei dem Turnier in Katar seine Bestmarke nicht lange behalten wird.