Als Kind drehte sich bei mir alles um Fußball. EM- und WM-Spiele waren für mich hohe Feiertage. Jedes Spiel, ob Kamerun gegen Saudi-Arabien, ob Japan gegen Costa-Rica wurde auf der Straße und im Garten mit wenn möglich farblich passenden T-Shirts nachgespielt. Panini-Bildchen als Standardwährung auf dem Pausenhof, der Fernsehbildschirm als Lagerfeuer für die ganze Familie.
Sei es Ball, Stein oder Luftballon: Noch heute kann ich an keinem runden Etwas vorbeigehen, ohne dagegen zu treten. Ronaldo (das Original!), der auf Oliver Kahn zurast, Zidane, der Materazzi zu Boden köpft, das ohrenbetäubende Raunen der Vuvuzelas: Die großen und kleinen Momente der Fußballfeste haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
DFB-Elf in der Einzelkritik: Zu viele Spieler patzen, zwei machen die größten Fehler

Note: 4
Seine Rettungstat kurz vor dem Pausenpfiff war enorm wichtig. Kassierte dann zwei Gegentore. Bei letzterem sah Neuer nicht glücklich aus.
Auch das, was gerade in Katar, in diesem Land vor unserer Zeit stattfindet, löst eine Menge Gefühle bei mir aus – nur hat keines davon mit dem Sport zu tun, den ich lieb(t)e. Ich bin ehrlich mit Ihnen, lieber Leser. Hätte ich diesen Kick nicht beruflich schauen müssen, hätte ich es mir womöglich gespart. Beim Mittippen im Kölner Homeoffice hatte ich das Fenster auf Kipp geöffnet – in Erwartung des tosenden Jubels der Nachbarn, die die DFB-Treffer dank TV-Anschluss Sekunden vor mir erleben. Doch als Gündogan in der 33. Minute seinen Elfmeter routiniert versenkte, war mein Veedel stiller als die Nationalspieler beim Mannschaftsfoto.
Kein Fingernägelkauen, kein Fluchen, kein Bangen, kein Hoffen
Ich bin nicht (gänzlich) naiv: Mir ist klar, dass wahrscheinlich alle großen Turniere der letzten Jahrzehnte in irgendeiner Weise gekauft waren, dass der Sport angesichts des Milliardengeschäfts, das der Fußball nun einmal ist, Jahr für Jahr weiter in den Hintergrund rückt – auch in der Bundesliga. Doch diese auf Hochglanz polierte PR-Show, diese künstlich bewässerte Wohlfühloase hat nichts mit den Fußballfesten zu tun, die ich in Erinnerung habe. Dieses Turnier ist schlicht klinisch. Es tut mir leid für junge Spieler wie Havertz, Moukoko oder Musiala, für die der Einsatz bei einer WM der absolute Höhepunkt, die Erfüllung aller Kindheitsträume sein müsste. Es tut mir aber genauso leid für all die fußballverrückten Kinder, die um unvergessliche, prägende Momente betrogen werden.
Nicht enden wollende Debatten um Kapitänsbinden, Bierverbote, und Fake-Fans – und nicht zu vergessen: die Tausenden toten Gastarbeiter – haben jedes bisschen Vorfreude im Keim erstickt. Nichtsdestotrotz hatte ich bis zum Anpfiff gehofft, der sprichwörtliche Funke würde doch noch auf mich überspringen. Dem war nicht so.

Als den "Samurai Blue" aus Japan kurz vor Spielende die Sensationswende gelang, fühlte ich: nichts. Kein Fingernägelkauen, kein Fluchen, kein Bangen und Hoffen. Wenn ich auch nur in einem Moment Gänsehaut hatte, dann nur, weil wir Heizkosten sparen. Gerne wäre ich so optimistisch wie mein Kollege. Dass ich so gar nicht mitfieberte, kommentierte er hanseatisch nüchtern mit "Wird noch". Sein Wort in Gottes, oder vielleicht besser: in Infantinos Ohr.