Liu Xiang-Verletzung Der Moment, als China weinte

Von Jens Fischer, Peking
China steht unter Schock. Ausgerechnet der Nationalheld Liu Xiang musste im Vorfeld über die 110-Meter-Hürden verletzt aufgeben. Für das Land eine nationale Katastrophe, wäre doch eine Goldmedaille Liu Xiangs das Wichtigste überhaupt bei diesen Olympischen Spielen gewesen.

Als Milliarden Chinesen am Montagmorgen aus ihren Betten stiegen, hatten sie nur eines im Kopf: den großen Auftritt ihres Helden. Liu Xiang, Olympiasieger von Athen, Weltmeister und ehemaliger Weltrekordler über die 110-Meter-Hürden, sollte an diesem Vormittag im Pekinger Nationalstadion seinen großen Auftritt haben. Exakt um 11.50 Uhr Pekinger Ortszeit war für den Mann, neben dem Basketballer Yao Ming das größte Sportidol Chinas, die Bühne frei. Vorlauf über die 110-Meter-Hürden, eigentlich nur eine Formsache und lockeres Einlaufen auf dem Weg zum Karrierehöhepunkt des Liu Xiang.

Wenige Minuten später stand ganz China unter Schock. Zahlreiche der 91.000 Zuschauer im seit Monaten ausverkauften "Vogelnest" weinten hemmungslose Tränen. Ihr Sprint-Gott, Identifikationsfigur dieses riesigen Landes, musste nach wenigen Aufwärmversuchen verletzt aufgeben. Liu Xiang war raus aus dem Wettbewerb, sein eigener und der Traum eines ganzen Volkes war geplatzt. Der 28-Jährige verließ das Stadion und hinterließ Trauer und Schmerz.

Das Ende der Rationalität

Den 1,3 Milliarden Chinesen war es egal, dass Liu Xiangs Coach Sun Haiping, einer der renommiertesten Trainer des Landes, bereits im Vorfeld der Spiele seine Bedenken über den Gesundheitszustand seines Schützlings äußerte. Achillesbeschwerden habe er, ein Start bei den Olympischen Spielen brächte viele Fragezeichen mit sich, sagte Haiping. Aber wenn die Chinesen Erwartungen an ihre Helden haben, dann werden rationale Gründe und auftauchende Probleme ignoriert. So auch bei Liu Xiang, der mit etwa fünf Millionen Euro Werbeeinnahmen im Jahr (Coca-Cola, Nike, China Mobile) der bestverdienende Leichtathlet der Welt ist.

"Ich mache mir wirklich Sorgen ums Finale. Wenn er den Fuß mit voller Kraft abdrückt, wird der Schmerz schlimmer. Es wird seine Vorstellung hier definitiv beeinträchtigen" - die Worte des Trainers verhallten ungehört. Dieser Montag war Nationalfeiertag in Peking - es sollte der Tag werden, an dem die große Stunde Liu Xiangs schlägt.

Bei Liu Xiangs Einlauf ins Nationalstadion steht die Menge Kopf. Schon vor Stunden haben sich die ersten chinesischen Zuschauer im Stadion eingefunden und sich bereit gemacht für die große Hürden-Party. Seit dem Beginn ihrer Olympischen Spiele haben sie auf diesen Augenblick gewartet. Liu Xiang geht gemächlich wie immer in Richtung seines Startblocks, die Bahn zwei haben die Veranstalter ihm zugeteilt. Er zieht seine Trainingsklamotten aus, lockert seine Muskulatur und macht sich bereit. In diesem Moment wird er bereits gewusst haben, dass er in den nächsten zehn Minuten Abermillionen seiner Landsleute enttäuschen wird. Aber er versucht es, er will laufen, im wichtigsten Rennen seines Lebens darf er einfach nicht verletzt sein.

Fassungsloses Publikum

Locker nimmt er beim Einlaufen die ersten drei Hürden, alles sieht für die Zuschauer normal aus. Dann wechselt er sein verschwitztes Trikot, eben die normalen Abläufe, dann kann es losgehen. Noch ein Fehlstart von Mohammed Al-Thawadi (Katar), und Liu Xiang sprintet los. Er kommt nicht weit. Noch vor der ersten Hürde strauchelt er, bremst ab und humpelt. Die Menge schreit auf und kann nicht fassen, was soeben passiert ist. Liu Xiang reißt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Startnummer vom Oberschenkel. Einige der vielen Offiziellen stehen noch ratlos um ihn herum und können es nicht begreifen. Er selbst wirkt gefasst, so als hätte er das alles kommen sehen. Dann verschwindet Liu Xiang in den Katakomben. Die Olympischen Spiele sind für ihn beendet.

Kein Spray, kein Eis - es war nichts zu machen

Auf einer live im chinesischen Staatsfernsehen übertragenen Pressekonferenz versuchte Xiangs Trainer Sun Haiping anschließend den Schock zu erklären. "Der Grund für seine Aufgabe ist eine Verletzung an der Ferse. Diese Verletzung kommt immer wieder, besonders wenn wir hart trainieren. Angefangen hatte es bereits vor den Spielen in Athen, so etwa vor sechs Jahren", sagte er unter Tränen. Haiping betonte, dass man bis zum Schluss alles versucht habe, um einen Start zu ermöglichen. "Liu hat sein Bestes gegeben. Drei Ärzte waren ständig bei ihm, aber alle Maßnahmen halfen nichts. Kein Spray, kein Eis - es war nichts zu machen. Zuletzt waren wir hier sogar noch im Krankenhaus und haben es mit Massagen versucht, aber es hat leider alles nichts gebracht."

35 Goldmedaillen hatte China zu dem Zeitpunkt des Scheiterns Liu Xiangs gewonnen. Aber keine dieser 35 Goldmedaillen wäre so bedeutsam gewesen, wie die ihres Nationalidols. Xiang bedeutet übersetzt "Flieg!" - und das konnten die Chinesen mit ihm. Eine ganze Nation war stolz auf ihren Sprinter - bis innerhalb weniger Sekunden alles zusammenbrach.

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