Für ein Land, das Ordnung schätzt, gibt es derzeit etwas viele "Beben", "Paukenschläge" und "Dammbrüche". Nun also der Rückzug von AKK. Ein Beben nach dem Beben. Auch für jene, die von Anbeginn fanden, dass sie eine Fehlbesetzung sei, muss dieser Rücktritt wenig befreiend wirken. Es ist ein Schock, ein Kurzschluss, und selbst wenn Annegret Kramp-Karrenbauer angezählt war, ist der Rückzug ein überflüssiger Verschleiß von Ressourcen. Dabei ist es fast egal, ob sie die Nerven verloren hat oder der Entschluss schon länger in ihr reifte: Für die CDU beginnt der Übergang nach dem Übergang. Gewiss ist nur, dass AKK diesen Übergang moderieren will.
Ironischerweise hat AKK, der man zu Recht mangende Klarheit in der Sprache vorgeworfen hat, in ihrem Rückzug ihre wohl klarsten Botschaften gesendet. Erstens: Es war ein Fehler, Parteivorsitz und Kanzleramt nicht in eine Hand zu legen. Zweitens: Die Abgrenzung zur AfD ist für die CDU genauso wichtig wie die zur Linkspartei. Und drittens: Wenn sie als Kandidatin aus dem Spiel ist, kann sie ihre Kraft glaubwürdig auf den Prozess der Kandidatensuche richten. Die CDU hat sich auf der taktischen Flanke Luft verschafft – mehr nicht.
Denn die Wunden der CDU gehen tiefer als die Blessuren aus Erfurt und offenbaren eine Schwäche der immer noch stärksten Partei, die weit über Thüringen und AKK hinausreicht.
Die CDU mag keine Disruption
Die CDU war und ist, bis auf wenige Ausnahmen, eine Partei recht geordneter Prozesse. Selten lässt sie Dynamiken zu, die sie nicht kontrollieren kann, weil ihre Wähler und Mitglieder das nicht schätzen: Wer sich selbst nicht im Griff hat, hat das Land nicht im Griff. Seit 1990 gab es mit der Spendenaffäre und dem berühmten Brief von Angela Merkel 1999 im Grunde nur eine Disruption. Sogar die Kanzlerkandidatur 2002 löste man bei einem Frühstück in Wolfratshausen. Seit 2015 allerdings nimmt die innere Spannung zu: In dem Jahr der Flüchtlingskrise und 2018, als Horst Seehofer und Angela Merkel erneut in Streit über das Thema gerieten, gibt es immer wieder Unruhe, Auflösung, ungesteuerten Streit, Fliehkräfte, es zeigten sich immer neue Risse und Frakturen.
Dennoch: So richtig die Nerven verloren hat die Spitze nie, das war immer noch eine Meisterschaft der SPD. Kurt Beck und Franz Müntefering schmissen hin, Sigmar Gabriel zog sich via stern-Interview zurück, Andrea Nahles gab auf, entnervt und aufgezehrt von den inneren Machtkämpfen. Nun das gleiche Schauspiel in der CDU.
Seit 2017 versucht die CDU, die Nachfolge Angela Merkels zu regeln: Organisationen, seien sie Parteien, Verbände oder Unternehmen, versuchen das immer geräuschlos zu machen, und dabei gleichzeitig Erneuerung und Kontinuität zu demonstrieren. Bloß kein Vakuum, kein Bruch, und wenn es einen Neuanfang geben soll, dann als kontrollierte Sprengung. Die CDU hat genau das versucht und ist bisher damit gescheitert. Denn die Phase des Übergangs an der Spitze fällt in eine Zeit, in der die CDU in einem völlig veränderten Parteiensystem agiert. Als Merkel an die Spitze rückte, musste man nur die SPD in Schach halten. Nun ist rechts die AfD und links Rot-Rot-Grün mit frommen Wünschen, man solle sich mal nicht so anstellen und bitte einen von der Linkspartei ins Amt hieven helfen.
Immer mehr bunte Haufen
Thüringen ist also mehr ein Symptom, als die Ursache für die Krise der CDU. Der missglückte Aufstand in Erfurt taugt auch wenig als Lehrstück Zentrale gegen Basis, Berlin gegen den Rest des Landes, Blase gegen Realität. Thüringen zeigt im Kleinen, was wir in anderen Ländern wie Spanien, Griechenland, Italien oder auch den Niederlanden beobachten: Die großen Parteien zerfallen in immer buntere, meist extremere Haufen und führen zu immer komplizierteren Regierungsbildungen und Koalitionen. Und je mehr sich etablierte Parteien dehnen, strecken und verbiegen, desto mehr verlieren sie an Profil: Ihre Kernschmelze beginnt, und die Haufen um sie herum werden noch bunter und extremer.
Wenn die CDU nun auch noch mit der Linkspartei zusammenarbeitet, fragt man sich zu Recht, warum man sie noch wählen soll. Die Linkspartei wiederum hat vom Siegeszug der AfD – obwohl sie im Osten gegen sie Federn lassen musste – profitiert. Sie wurde in weiten Teilen rehabilitiert und reingewaschen und wird nun automatisch zum "demokratischen Spektrum" gezählt.
Natürlich kann man Linkspartei und AfD nicht gleichsetzen – erstere ist seit Jahren, zumal im Osten, Gestaltungspartei, sie regiert, koaliert und schließt Kompromisse. Und Bodo Ramelow ist einfach eine Ausnahmeerscheinung in der Partei. Es darf nicht vergessen werden, dass zentrale Inhalte des Parteiprogramms – angefangen von der abenteuerlichen Außenpolitik bis hin zur "Eigentumsfrage" – diametral im Gegensatz zu den Überzeugungen und Kerninhalten der CDU stehen. Jener Partei, die sieben Jahrzehnte die Geschicke eines Landes geprägt hat, das vierzig Jahre davon noch der Systemfeind war. Die Linkspartei ist in Teilen extrem, verfassungsfeindlich, und sie hat in ihren Reihen eine Menge übler Gestalten. Für die CDU haben sich im Grunde zwei unmögliche Optionen aufgetan – nur dass die eine noch unmöglicher ist.
In Thüringen wurden zwei Muster erkennbar, man könnte auch sagen, zwei Präzedenzfälle geschaffen und politische Waffen ausprobiert: Die AfD hat erprobt, was es bedeutet, wenn sie einen Kandidaten wählt; sie macht ihn untragbar. Inzwischen denkt sie laut darüber danach, auch für Bodo Ramelow zu stimmen, was deutlich macht, welche Dimension inzwischen ihr Wille zur Zerstörung angenommen hat.
Die Waffen der AfD und von Rot-Rot-Grün
Rot-Rot-Grün wiederum hat einen noch interessanteren Fall geschaffen, der auch in anderen Bundesländern oder im Griff nach dem Kanzleramt eine Rolle spielen könnte: Rot-Rot-Grün inszeniert sich quasi als größtmögliche wählbare Minderheit – denn eine Kooperation von CDU/CSU, FDP und AfD ist ja ausgeschlossen. Wenn in dritten Wahlgängen die relative Mehrheit ausreicht, könnte ein Links-Bündnis immer seinen Kandidaten ins Rennen schicken, weil kein gegnerischer Kandidat mehr Stimmen auf sich vereinigen kann – außer, er nimmt AfD-Stimmen.
Sogar einen Kanzler könnte man so installieren, der dann schwer zu stürzen wäre – weil man für das konstruktive Misstrauensvotum immer einen Nachfolger wählen muss. Das aber ginge, rein theoretisch, auch nur mit Stimmen der AfD. Anders gesagt: In Deutschland zählen nicht mehr nur politische Mehrheiten, sondern die größtmögliche Minderheit und die unmögliche Mehrheit bestimmen zunehmend das Spiel. Eine Situation, die die SPD zu gut kennt, solange sie Koalitionen mit der Linkspartei ausgeschlossen hat.
Die Frage wäre, ob SPD und Grüne so etwas wagen oder durchziehen würden, denn auch hier würde man die Regeln des politischen Anstandes und der demokratischen Gepflogenheiten als verletzt ansehen, so wie man es in Thüringen zu Recht getan hat. Aber die Versuchung ist da, die Option.
Die CDU muss nun schnell einen Kanzlerkandidaten finden, der sie wieder so eint und stark macht, dass beide Optionen nicht plötzlich die einzigen sind.