Angesichts des Rekorddefizits der Pflegeversicherung wächst der Druck auf die Bundesregierung, diesen Teil des sozialen Netzes schnell und grundlegend zu reformieren. Sowohl CDU/CSU-regierte Länder als auch das SPD-geführte Nordrhein-Westfalen appellierten am Dienstag an Rot-Grün in Berlin, rasch zu handeln, um vor allem die steigenden Ausgaben in den Griff zu bekommen. Das Bundessozialministerium sagte zu, die Reform bis Ende 2006 auf den Weg bringen zu wollen, schloss aber Schnellschüsse aus.
Nach vorläufigen Zahlen des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) wird das Defizit der gesetzliche Pflegeversicherung 2003 bei etwa 650 Millionen Euro liegen. Dies war deutlich mehr als 2002, als zwischen Einnahmen und Ausgaben eine Lücke von 380 Millionen Euro klaffte. Das Defizit sei "eher konservativ geschätzt", sagte VdAK-Sprecher Martin Plass. Der Sprecher des Bundessozialministeriums, Klaus Vater, sagte dazu am Montag in Berlin, die Defizit-Steigerung komme nicht überraschend, sondern liege in der vom Ministerium bereits im Herbst veranschlagten Größenordnung.
Geplante Reform zunächst ausgesetzt
Die geplante Reform der Pflegeversicherung war durch die Intervention von Bundeskanzler Gerhard Schröder in der vergangenen Woche in die Schlagzeilen geraten. Er hatte den Plan von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) verworfen, Nichterziehende mit einem Pflege-Sonderbeitrag von 2,50 Euro im Monat zu belasten. Damit wollte Schmidt die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts erfüllen, Eltern bis Anfang 2005 in der Pflegeversicherung besser zu stellen. Nun wird über einen Freibetrag für Eltern nachgedacht.
Gefundenes Fressen für die Union
Unions-Fraktionsvize Horst Seehofer sagte dem Berliner 'Tagesspiegel' zufolge: "Durch die gravierende Fehlentscheidung, die Reform der Pflegeversicherung auszusetzen, entsteht in absehbarer Zeit ein gewaltiger Druck auf die Beiträge." Er sagte voraus, dass von 2006 an die Beiträge erhöht werden müssten. "Ende 2005 ist das Finanzpolster aufgebraucht", vermutete auch der CDU-Sozialexperte Andreas Storm und warnte davor, die Finanzen der Pflegekassen "vor die Wand" zu fahren. "Zeit ist Geld", drängte Seehofer. Je später die Reform komme, desto tiefer die Einschnitte. "Trotz der 14 Wahlen in diesem Jahr: Einen politischen Stillstand können wir uns nicht leisten", sagte der CSU-Politiker der Zeitung.
2006 ist das Ziel
Die Regierung will die Pflege-Reform mit Verbesserungen für Demenzkranke, der Dynamisierung der seit 1995 eingefrorenen Leistungen und besserer Honorierung der ambulanten Pflege nun bis 2006 anpacken. Der Sprecher des Bundessozialministeriums, Klaus Vater, sagte am Dienstag auf AP-Anfrage, die Reform werde "äußerst sorgfältig vorbereitet" und noch in dieser Wahlperiode "in Stufen umgesetzt". Dies wird allerdings ohne zusätzliche Mittel nicht gehen. "Die Gesellschaft muss festlegen, was ihr die Pflege künftig wert ist", sagte SPD- Fraktionsvize Gudrun Schaich-Walch der dpa.
Indirekt hat Ministerin Schmidt bereits eine "Dynamisierung" des seit Jahren bei 1,7 Prozent festgeklopften Beitragssatzes ins Gespräch gebracht. Da die rot-grüne Koalition aber die Lohnnebenkosten senken will, hätte der von Schmidt angedeutete Weg nur dann eine Chance, wenn zugleich der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung sinkt. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hält dies 2006 für möglich.
Bedürftigenzahlen steigen weiter
Wegen der steigenden Zahl immer älter werdender Menschen gerät die 1995 gestartete Pflegeversicherung immer mehr unter Druck. Die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit rund 1,9 Millionen dürfte bis 2010 nach Schätzungen auf 2,15 Millionen klettern. Spätestens im Jahr 2007 dürfte das Finanzpolster von zuletzt noch 4,5 Milliarden Euro bis auf die gesetzliche Mindestreserve aufgebraucht sein.