Die Strommasten an der A 24 bei Wittenburg sind ein Sinnbild für die Probleme der Energiewende: Hier endet die seit rund zehn Jahren diskutierte und geplante Stromautobahn von Schwerin nach Hamburg. Nur: Die schwarzen Kabel transportieren keinen Strom, die Strippen hängen träge an den Stahlmasten herunter.
"Das ist ja ein ziemliches Kuddelmuddel hier", stellt Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) fest, der die Anlage an der Landesgrenze zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein am Montag besichtigte. Seit zwei Jahren stehen die Bauarbeiten an der Trasse bereits still, so lange ließ der nötige "Planfeststellungsbeschluss" aus Kiel auf sich warten.
Kuddelmuddel. So mancher würde diese Überschrift wohl auch der Energiepolitik der Bundesregierung verpassen: Die Stromnetze sind an die Grenze der Belastbarkeit geraten, deutsche Solarfirmen gehen pleite und die Stromrechnung steigt für Bürger wie Firmen - bei der Umsetzung der Energiewende hapert es an allen Ecken und Enden. Vor allem aber fehlt es an einer zentralen Steuerungsstelle, die die Energiepolitik koordiniert. Kommunen, Länder, der Bund: Alle planen, doch ein Masterplan ist nicht zu erkennen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat deshalb an diesem Mittwoch zum Energiegipfel ins Kanzleramt geladen. An dem Treffen sollen unter anderem Spitzenvertreter von RWE, Eon, Siemens und des Stadtwerkeverbunds Thüga teilnehmen. Sie wolle sich zunächst einen Überblick über den Stand des Netzausbaus verschaffen, so Merkel gegenüber der Zeitung "Welt". Offene Fragen gebe es auch beim geplanten Ausbau der Offshore-Windenergie: "Die Anbindung ans Festland ist eine Herausforderung", so Merkel.
4000 Kilometer neue Höchstspannungsleitungen nötig
Und das ist nicht die einzige Herausforderung: Da die Wind- und Solarleistung stark schwankt, sind die Stromnetze derzeit einem Dauer-Stresstest ausgesetzt. "Wir müssen den Netzausbau viel stärker mit dem Ausbau der regenerativen Energien synchronisieren", sagt der Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena), Stephan Kohler. Die Schätzung der Dena, dass mehr als 4000 Kilometer neue Höchstspannungsleitungen nötig sind, dürfte bald überholt sein, so Kohler. "Es gibt eine enorm hohe Dynamik beim Ausbau der regenerativen Energien." Der Bau neuer Stromtrassen halte damit aber nicht Schritt.
Der Bau der sogenannten "Windsammelschiene" zwischen Schwerin und Hamburg ist nicht das einzige Projekt, bei dem es nicht vorangeht: Auch bei der Trasse von Thüringen nach Bayern (Thüringer Strombrücke) gibt es einen erheblichen Zeitverzug. Wenn 2015 das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld stillgelegt wird, muss diese Leitung betriebsbereit sein, sonst könnte die Versorgungslage im Südosten kritisch werden. Es fehlen schlicht die Netze, die den Windstrom vom Norden in den Süden transportieren.
Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) regte bereits eine teilweise Verstaatlichung der Stromnetze an. Man solle prüfen, "ob eine einheitliche Netzgesellschaft mit staatlicher Beteiligung sinnvoll sein könnte", sagte er dem "Handelsblatt". Es sei wichtig, dass der Netzausbau vorangeht - "und zwar so schnell wie möglich". Nach den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW ist ein Treffen der Ministerpräsidenten geplant, um möglichst verbindliche Absprachen zu treffen. Bis Ende des Jahres soll dann ein Gesetz für eine bundesweite Netzentwicklungsplanung in Kraft treten.
Umlage für Stromkunden wird weiter steigen
Ein weiteres Problem sind fehlende Speicherkraftwerke: "Nur Pilotprojekte reichen nicht aus", warnt Dena-Chef Kohler. Bislang existieren in Deutschland Speicherkapazitäten von rund 6400 Megawatt, die sich auf verschiedene Pumpspeicherkraftwerke verteilen. Dort kann überschüssiger Strom bei zu viel Wind und Sonne durch das Heraufpumpen von Wasser in ein höheres Becken gespeichert werden. Bei Flaute und Wolken stürzt das Wasser herunter und treibt stromerzeugende Turbinen an. Ohne solche Speicher bleibt Wind- und Sonnenstrom unkalkulierbar.
Da Leitungen und Speicher fehlen, müssen Windparks vor der Küste immer öfter zwangsweise vom Netz genommen werden. Mehrere Nordsee-Windparks konnten wegen Problemen beim Netzbetreiber Tennet erst gar nicht ans Netz angeschlossen werden. Die Entschädigungen dafür zahlen die Bürger über den Strompreis: Denn auch wenn der Strom nicht eingespeist wird, vergütet wird er trotzdem.
Und die Kosten für Stromkunden drohen weiter zu steigen: Bis zum 15. Oktober muss die neue Umlage zur Förderung erneuerbarer Energien bekannt gegeben werden. Nach Einschätzungen der Branche ist es möglich, dass die Umlage von derzeit 3,5 Cent je Kilowattstunde auf bis zu 5 Cent steigen könnte. Für einen Vier-Personen-Haushalt wären das bis zu 50 Euro mehr pro Jahr. Entspannen würde sich die Lage erst wieder ab 2020, wenn die Förderung für die teuren Altanlagen ausläuft. "Bis dahin müssen wir noch eine Durststrecke durchmachen", sagt Kohler.
Vor dem Energiegipfel im Kanzleramt übte die Opposition daher scharfe Kritik an der schwarz-gelben Energiepolitik: "Eingeladen sind mit den großen Konzernen und den Netzbetreibern die Verlierer und Blockierer der Energiewende", sagt Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. "An allen wichtigen Baustellen herrscht Stillstand oder Rückschritt." Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisiert in der "Welt" den Gipfel als "Schauveranstaltung der Ex-Monopolisten". Nötig sei vielmehr ein Monitoring, bei dem die Fortschritte beim Umbau der Stromversorgung kontinuierlich von unabhängigen Experten bewertet werden.
Angst vor Versorgungslücke ohne neue Kraftwerke
Neben dem stockenden Netzausbau treibt die Energiewirtschaft besonders die unsicheren Rahmenbedingungen für neue Gas- oder Kohlekraftwerke um. Neue Kraftwerke werden als Ausgleich für die Atommeiler nach 2022 zwar gebraucht, rechnen sich aber kaum, da es einen Einspeisevorrang für Wind- und Solarstrom gibt. Als Reserve für den Kampf gegen einen Blackout sind neue Kraftwerke unverzichtbar. Da schon jetzt Wind und Sonne den Strombedarf an einigen Tagen fast vollständig decken, ist allerdings nicht abzusehen, wie viele Stunden pro Jahr ein neues Kraftwerk überhaupt Strom produzieren könnte.
Das Energiewirtschaftliche Institut der Uni Köln (EWI) hatte kürzlich im Auftrag des Wirtschaftsministeriums ein Konzept erarbeitet, das aufzeigen soll, wie eine Stromlücke in Deutschland in den nächsten Jahren durch den Bau neuer Kraftwerke verhindert werden kann. Darin kam das EWI zu dem Schluss, dass der Markt alleine dies nicht regeln wird. Es plädiert für Hilfen für Investoren, die am Ende die Verbraucher zahlen müssten.