Als hätte die Erdkruste ein gehässiges Wesen, schickte sie den Westdeutschen genau das, was sie zurzeit mit am meisten fürchten: eine Naturkatastrophe, genauer gesagt ein Erdbeben. Zugegeben, es rumpelte zwischen Bielefeld und Bonn nur sehr leicht, viel ist nicht passiert. Und doch: Es reiht sich ein in eine Kaskade der Katastrophen. Wohl kaum in der jüngeren Vergangenheit reihten sich schlechte Nachrichten aneinander wie dieses Jahr: Ein Bakterium namens Ehec rafft Dutzende von Salatessern hinfort, in Norwegen massakriert ein Islamhasser mehr als 80 Menschen, liebgewonnene Urlaubsländer wie Griechenland und Spanien kämpfen mit der Staatspleite und drohen den ganzen Euroraum, ja, die ganze EU mit in den Abgrund zu reißen. Und die notorisch dauerbesorgten Deutschen? Sind gut gelaunt: Sie gehen shoppen wie seit langem nicht mehr, fürchten sich weder um ihre Arbeitsplätze noch um die Wirtschaftslage. Das allgemeine "Angstniveau", jetzt wieder von einer Versicherung ermittelt, ist so niedrig wie seit 1994 nicht. "Das ist sensationell", jubelt Manfred Schmidt, Mitherausgeber der Studie "Die Ängste der Deutschen". Was ist passiert mit der sprichwörtlichen "German Angst", über die im Ausland so gerne gelächelt wird? Sind die Deutschen plötzlich lässig geworden?
These 1
Die Kaskade der Katastrophen stumpft die Menschen ab. Seit dem 11. September 2001, also seit genau zehn Jahren, wird die Welt von brutalen Terroranschlägen heimgesucht (New York, Madrid, London, Mumbai), es folgten zwei umstrittene Kriege, gigantische Bankpleiten wie von Lehman, eine Weltwirtschaftskrise, größtanzunehmende Atomunfälle (Fukushima) und immer wieder heftige Naturkatastrophen ("Katrina", "Ike", "Ivan"). Es ist der Punkt erreicht, an dem die Leute kaum noch etwas schocken kann, denn was soll jetzt noch groß passieren? "Die Menschen ängstigen die Ereignisse durchaus, und sie spüren, dass der Zusammenbruch bevorstehen könnte", sagt Stephan Grünewald, Mitbegründer des Rheingold-Instituts, das mit tiefenpsychologischen Interviews die deutschen Befindlichkeiten untersucht. "Doch die Ereignisse werden verdrängt, die Menschen flüchten sich in einen heiteren Fatalismus." Die Welt, das haben die Menschen in den letzten Jahren gelernt, dreht sich trotzdem weiter.
These 2
"Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts" (Ludwig Erhard, Vater des Wirtschaftswunders). Anders gesagt: Auch wenn die Welt wankt, den Deutschen geht es gut. Die Einkommen sind stabil oder wachsen sogar, die Unternehmer melden das größte Produktionsplus seit 18 Jahren, die Zahl der Arbeitslosen liegt unter drei Millionen. Und weil sich immer weniger Menschen um ihre Arbeitsplätze sorgen, wird fröhlich geshoppt. Die Deutschen haben wieder Geld in der Tasche, weshalb die "Anschaffungsneigung zurzeit so hoch ist wie lange nicht mehr", sagt Klaus Wübbenhorst, Vorstandschef des Konsumforschungsinstitut GfK. Ganz anders als im Rest Europas übrigens, wo etwa Immobilienkrisen wie in Spanien oder Großbritannien das Vertrauen der Leute untergraben hat. Zwar leide die Wirtschaft derzeit an einer Sommergrippe, "aber es deutet nicht viel daraufhin, dass sich der Zustand verschlimmern wird".
These 3
Ob Tsunami, Attentate in Norwegen oder die Eurokrise: Es passiert viel, aber was passiert, ist weit weg oder abstrakt. Wer kann sich schon vorstellen, wie viel Geld die 211 Milliarden Euro sind, die die Bundesregierung für den EU-Gau locker machen müsste. Also für den Fall, dass Griechenland, Portugal und Spanien zahlungsunfähig werden - fast zwei Drittel des gesamten Jahresetats des Bundes. Allein: Noch ist längst nicht sicher, ob sie überhaupt je fällig werden. Freilich, die Zukunft der wankenden Gemeinschaftswährung beunruhigt die Deutschen laut der Angststudie durchaus. Doch wie reagieren die? Sie fliehen in den Konsum: Weil die Währungskrise und ihre möglichen Folgen so unbegreiflich sind, werden Möbel, Autos oder Waschmaschinen gekauft, "um das angelegte Geld in reale Werte zu überführen", wie Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut sagt. Außerdem sei Shoppen etwas Aktives, man fühle sich als Herr der Lage. Ein Ende jedenfalls ist vorerst nicht abzusehen. Die GfK geht davon aus, dass der Konsum in diesem Jahr um 1,5 Prozent zunehmen wird.
These 4
Das Land funktioniert trotz der aktuellen Regierung. Der Hoffnungsträger Karl-Theodor zu Guttenberg: zurückgetreten. Außenminister Westerwelle: auf dem Abstellgleis. Die FDP: eine Partei im Niedergang. Regierungschefin Angela Merkel: eine Hütt-und-Hutt-Kanzlerin. Kaum eine Bundesregierung wird nach gerade einmal zwei Jahren im Amt so schlecht bewertet wie die Koalition aus CDU/CSU und FDP. Trotzdem läuft es in Deutschland. Und es gibt sie noch, die Politiker und Parteien, die den Menschen Mut machen. "Die Deutschen suchen nach Gestalten, die wieder Ordnung ins Chaos bringen. Jemanden wie Peer Steinbrück, der immer noch von seiner erfolgreichen Bewältigung bei der letzten Finanzkrise profitiert", sagt Befindlichkeitsforscher Grünewald. Auch das Dauerhoch der Grünen ist ein Zeichen dafür, dass noch nicht der letzte Rest Vertrauen in die Politik verloren gegangen ist.
These 5
Die "German Angst" gibt es nicht mehr. Bereits 2009 hat die GfK eine Studie mit der überraschenden Aussage betitelt: "Die Deutschen sind die Optimisten Europas." GfK-Chef Wübbehorst geht sogar noch weiter: "Seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 macht sich in Deutschland ein neues Lebensgefühl breit." Das vierwöchige Turnier unter blauem Himmel war die psychologische Wende hin zu mehr Optimismus, Lebensfreude und Unbeschwertheit - das haben wohl die meisten Deutschen gespürt. Nicht nur, weil die Elf des damaligen Teamchefs Jürgen Klinsmann dem deutschen Fußball Spielfreude und Leichtigkeit verpasst hat. Denn dabei blieb es nicht: Immer häufiger waren Deutschen bei Riesenevent (EM 2008, WM 2010, Eurovision Song Contest mit Lena, Formel-1 mit dem deutschen Weltmeister Vettel) ziemlich erfolgreich - und Erfolg macht locker. Besonders wenn die Welt unübersichtlich wird, helfen Großereignisse. Die Deutschen leben von Event zu Event: Ob Sportturniere, Weihnachten oder Karneval - all diese Event sind Auszeiten. "Welten, die man versteht, weil sie klare Spielregeln haben", so Grünewald.