Geht's noch? Merkt Ihr überhaupt noch was? Auch wenn die beteiligten Wissenschaftler und die die Studie finanzierenden VW, Daimler und BMW jetzt zurückrudern, relativieren und Untersuchungen ankündigen, das verstörende Faktum bleibt: Menschen wurden für die Autoindustrie in einen Raum gesetzt und Abgasen ausgesetzt! Auch ohne den Umstand, dass das schlimme Erinnerungen an den Holocaust wachruft, ist das schlicht eine Ungeheuerlichkeit. Was muss in den Köpfen von Verantwortlichen aus der Autobranche vorgehen, dass so etwas auch nur in Erwägung gezogen wird? Wie gewissenlos sind die Menschen, die eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Branche des Landes lenken?
Seit die Manipulation der Abgaswerte öffentlich wurde, wird der eklatante Mangel an Verantwortungsbewusstsein bei Verantwortlichen der Autobranche überdeutlich - vor allem bei VW. Die Trickserei auf Kosten unser aller Gesundheit, denn nichts anderes ist die jahrelange Schönfärberei des Stickstoffoxid-Ausstoßes bei VW-Dieselfahrzeugen, kommt doch im Grunde schon einer Abgas-Langzeitstudie mit uns allen als Versuchspersonen gleich. Denn seit Jahren schlagen Fachärzte in den verkehrsreichen Ballungsgebieten wegen überdurchschnittlicher Lungen- und Atemwegserkrankungen Alarm. Zu trauriger Berühmtheit erlangte erst kürzlich die Situation in Leverkusen, einer Stadt, die von Autobahnen und entsprechendem Verkehrsaufkommen geradezu geprägt ist. Wer die Erfahrungsberichte der dortigen Ärzte hört, entwickelt fast zwangsläufig eine große Wut auf Autobauer, die mutwillig die Einhaltung von Grenzwerten zum eigenen Wettbewerbsvorteil vorgaukeln, dabei jedoch die Gesundheit der Menschen nachhaltig gefährden.
Autobauer sägen selbst an ihrem Ast
Sicher, die Autobranche ist der Wirtschaftsmotor unseres Landes, unzählige Arbeitsplätze hängen daran, und niemand will die Branche zusammenbrechen sehen. Nur: Arbeiten die Autobauer selbst nicht am meisten an ihrem drohenden Untergang? Die Abgas-Tricksereien sind auch Ausdruck eines rückwärtsgewandten Denkens, in dem Innovation immer noch vor allem PS, Fahrspaß und Komfort meint. Man würde sich wünschen, dass die Autobauer mit ebenso großer Energie und gleichem Ideen-Reichtum an der Entwicklung möglicher Alternativ-Antriebe und alternativer Mobilitätskonzepte arbeiten würden. Denn das ist dringend nötig, soll eine Gesellschaft, die so sehr auf Mobilität baut wie unsere, zukunftsfähig bleiben. Doch mit Elektro-Mobilität und autonomem Fahren verbindet man eher die Namen Tesla, Google oder auch Apple und kaum VW, Daimler und BMW.
Wie schlecht es um die Innovationskraft der deutschen Autobauer bestellt ist, hat ja nicht zuletzt der peinliche Vorfall offenbart, als Daimler einen über die Autovermietung Sixt beschafften Tesla beim Auseinandermontieren ramponierte, oder die Erfolgsgeschichte der Streetscooter, jene E-Transporter, mit denen die Post nun den klassischen Autobauern Konkurrenz macht - und das - nicht zu vergessen - in einer Situation, in der der halbe Mittelstand in Angst lebt, weil Innenstadt-Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge drohen und damit Existenzen bedroht werden.
Politik muss Konsequenzen durchsetzen
Und die Politik? Sie ist allzu sehr mit der Branche verwoben (VW) oder zum eigenen (Wahl-)Erfolg auf deren Erfolge angewiesen, dass sie sich scheut, die Autobauer hart anzufassen. Man erinnere sich nur an die Aufregung, als die geschäftsführende Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) im Beisein von VW-Chef Matthias Müller offen ihre "Enttäuschung" angesichts des Diesel-Skandals formulierte und eine Aufsicht durch das Umweltministerium ins Gespräch brachte.
Reflexhaft hat Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), durch sein Amt gleichzeitig Mitglied des VW-Aufsichtsrats, nun genaue Aufklärung und "personelle und persönliche Konsequenzen" gefordert. Und auch die Kanzlerin ließ über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert wissen: "Diese Tests an Affen oder sogar Menschen sind ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen." Da sei "die Empörung vieler Menschen absolut verständlich". Diese Empörung wird bei den einen anhalten, bei vielen aber auch einer Resignation weichen. Denn es steht zu befürchten, dass auch der jüngste Skandal ohne nachhaltige Folgen bleibt. Doch die Autobranche muss dringend in die Spur finden, um ihre Innovationskraft in die richtige Richtung zu lenken und auch in Zukunft eine wichtige Stütze der Wirtschaft zu sein. Da die Branche ihre Selbstreinigungskraft offensichtlich verloren hat, muss ihr Politik klug und bestimmt den Weg weisen. Wer sollte es sonst tun?