Testfahrt Sauberes Energiebündel

Das Forschungsauto F 600 von Mercedes hat es in sich. Mit Brennstoffzelle und abgasfreiem Elektroantrieb soll es 2012 in Serie gehen.

Fehlstart? Nach dem Druck auf den Starterknopf rührt sich nichts im wertvollsten Mercedes aller Zeiten. Voll gestopft mit teurer und geheimer Technik von übermorgen bleibt der metallic-graugrüne Vier-türer stumm und störrisch. Okay, ist schließlich ein Mercedes-Prototyp, mühsam per Hand in einer versteckten Turiner Werkhalle zusammengepuzzelt. Vorläufiger Name: F 600 Hygenius. Offenbar zickt das revolutionäre Auto. Kein Motorbrummen, kein Auspuffröhren. Vom Beifahrersitz beobachtet Günter Hölzel die Startversuche. "Läuft schon", sagt schließlich milde lächelnd der Leiter Fahrzeug-Projekte und Engineering bei Daimler-Chrysler.

Start zur Jungfernfahrt auf einem Militärflugplatz bei Zürich. Eine Weltpremiere, die der stern exklusiv begleitet. Zaghafter Tritt aufs Gaspedal. Fast lautlos schiebt ein Elektromotor den Wagen kraftvoll voran. Die nötige Energie liefert unterwegs das bordeigene Kraftwerk. Zutaten: Wasserstoff aus dem Tank und Sauerstoff aus der Luft. In einem kleinen Kasten, der Brennstoffzelle unter dem Fahrzeugboden, kommen beide Gase zusammen. Dabei läuft eine chemische Reaktion ab, die Strom liefert. Völlig ohne Schadstoffe. Aus dem Auspuff tröpfelt nur Wasser.

Neu ist das mobile E-Werk nicht. Aber die wegweisende Technik steckt erstmals in einem Auto, das Mercedes eigens für die neue Antriebsart entwickelt hat. Der F 600 ist keine umgefummelte Benzinkutsche, kein rollendes Versuchslabor, sondern ein richtiges Auto. Sieht auch so aus. Riesige Räder und weit ausgestellte Kotflügel, kurze Überhänge vorn und hinten, rechtwinklige Dachkante im Heck sowie eine extrem tiefe Gürtellinie. "Wegweisende Technik allein nutzt wenig, wenn das Brennstoffzellenauto im Design nicht akzeptiert wird oder nicht alltagstauglich ist", sagt Herbert Kohler, bei Daimler-Chrysler Leiter der Forschungsdirektion Fahrzeugbau und Antrieb.

Letzteres ist beim F 600 kein Problem. Er leidet nicht mehr an den Kinderkrankheiten seiner Vorläufer, etwa an knapper Reichweite oder der Zwangspause bei Minustemperaturen. Dann nämlich fror das Wasser in der Brennstoffzelle zu Eis und legte die Stromproduktion lahm. Alles vorbei. Weil der Druck in den Tanks mit 700 Bar fast doppelt so hoch ist wie bei den Vorläufern, passen jetzt vier Kilogramm Wasserstoff rein. Die reichen für 400 Kilometer. Auch der Kaltstart bei 25 Grad unter Null klappt jetzt ohne weiteres.

Die Technik dazu wurde im Konzernforschungszentrum Ulm ausgetüftelt: In der Brennstoffzelle steckt eine hauchdünne Folie, die zur Stromproduktion stets feucht gehalten werden muss. Das ist auch beim F 600 so, jedoch mit deutlich weniger Feuchtigkeit als bisher. Deshalb friert auch so schnell nichts ein. Stolz ist Andreas Docter, Leiter der Brennstoffzellen-Systemtechnik, auf den geringen Verbrauch des F 600. Auf 100 Kilometer benötigt er umgerechnet weniger Energie, als in drei Liter Diesel steckt - obwohl er mit mehr als 1700 Kilogramm Leergewicht so schwer ist wie ein Modell der E-Klasse.

Von den Pfunden ist bei der Testfahrt auf dem eidgenössischen Fliegerhorst kaum was zu spüren. Der Durchzug von unten ist so kräftig wie bei einem fetten Sechszylinder. Dank Elektroantrieb muss der F-600-Motor nicht erst auf Drehzahl hochorgeln, denn die volle Power liegt schon in der ersten Sekunde an. Zwar ist der Zukunfts-Mercedes kein Tempo-Weltmeister oder Krawallstarter, für zügiges Mitschwimmen im Alltagsverkehr reichen die 115 PS aus der E-Maschine im Heck aber locker.

Beflügelt vom F 600 hat sich Daimler-Chrysler ehrgeizige Ziele gesetzt. Für 2012 planen sie die Serienversion des High-Tech-Kompaktautos. Drei Jahre später könnten weltweit bereits 100 000 Privatleute mit dem Brennstoffzellenauto fahren. Und 2020 soll der Neuling bereits ein Prozent aller Neuzulassungen in Deutschland erreichen. Noch vor der Markteinführung muss eine andere Frage beantwortet sein: Wo soll der immer noch hochgefährliche Wasserstoff absolut sicher getankt werden?

Die schwäbischen Autobauer treten mächtig aufs Gas, allerdings nicht ganz freiwillig. Japanische Konkurrenten haben einen ähnlichen strammen Fahrplan für vergleichbar ehrgeizige Ziele verkündet. Jüngst erst erwischte es unter anderem die Stuttgarter böse in dem Wettkampf der Konzerne, weil auch sie den Trend zur Hybrid-Technik falsch eingeschätzt haben und deswegen abgehängt worden sind. Während deutsche und andere europäische Autobauer Grundsatzfragen klärten, stürmten Doppelherz-Autos (mit Elektro- und Verbrennungsmotor) von Toyota in den USA die Bestsellerlisten. Diese Schlappe soll sich beim Brennstoffzellenauto nicht wiederholen.

Ein wichtiger Punkt ist auch der Preis. Wahrscheinlich wird er unter 50 000 US-Dollar liegen. "Den im gesteckten Rahmen zu halten", sagt Christian Mohrdieck, Leiter Brennstoffzellen-Antriebsentwicklung, "ist mindestens ebenso schwer wie die anderen Probleme zu knacken." Außerdem: Der Zukunfts-Mercedes soll kein Verzichtauto für dogmatische Öko-Freaks werden, muss aber zugleich ähnliche Qualitäten bieten wie eine konventionelle Familienlimousine von heute. Und jede Menge Innovationen. Außen kurz wie die C-Klasse, innen geräumig wie die S-Klasse, hat der F 600 neben der Brennstoffzelle noch weitere Knaller. Allesamt keine Science-Fiction, dafür ebenso wegweisende wie handfeste Komfort- und Sicherheitszutaten.

Beispiel eins: das virtuelle Display. Alle Anzeigen der Instrumente, etwa Tacho oder Navi-Routenführung, erscheinen immer in einer Entfernung von 1,40 Meter. Dahinter steckt eine optische Täuschung, die mehrere verborgene Spiegel im Cockpit projizieren. Durch diesen Trick wirken Ziffern und Symbole klarer und größer. Wichtiger noch: Für den Fahrer entfällt die drohende Augenermüdung durch häufigen Blickwechsel vom üblichen Tacho oder Drehzahlmesser zur weiter entfernt liegenden Fahrbahn. Außerdem können Fahrer und Beifahrer auf getrennten Displays unterschiedliche Informationen abrufen.

Beispiel zwei: die Totwinkel-Erkennung. Nähert sich von hinten ein Auto oder Zweirad im toten Winkel der Außenspiegel, ertönt im Cockpit ein Warnsignal, und im Innenspiegel blinkt ein Gefahrensymbol. Hält der F 600 zum Parken an, blockiert eine Automatik kurz die Türen, um beim Öffnen eine Kollision zu vermeiden. Eventuelle Warnhinweise kommen von winzigen Videokameras in den Außenspiegeln. Beispiel drei: das Sitzkonzept. Elektromotoren passen das mehrteilige Sitzpolster, neuschwäbisch "split-back" genannt, in Höhe, Breite und Länge exakt der Körperkontur an. Clou sind die Einlagen aus einer silikonartigen Masse. Die schmiegen sich nach dem Wasserbettprinzip automatisch jeder kleinsten Verlagerung der Wirbelsäule an.

Beispiel vier: die Energienutzung. Der Strom aus der Brennstoffzelle versorgt nicht nur den Elektromotor, sondern auch spezielle Cupholder. Die können gekühlt oder, etwa für Babynahrung, geheizt werden. Wer das Nummernschild am Heck umklappt, legt zwei Steckdosen mit jeweils 220 Volt und 110 Volt frei. Kaffeemaschine, Elektrogrill, Fernseher können beim Picknick ebenso eingestöpselt werden wie Drucker oder Computer. Rechnerisch reicht der Strom nach Angaben von Mercedes, um mehrere Mietshäuser mit Saft zu versorgen. Zum Beiweis liefert der F 600 zur Präsentation auf der Tokyo Motor Show ab diesem Wochenende den Strom für die komplette Standbeleuchtung, den Bar- wie Küchenbereich und die Klimaanlage.

Beispiel fünf: das Bedienkonzept. Den Stuttgartern ist eine deutliche Vereinfachung der Steuerung für Navigation, Klima, Telefon und Audio gelungen. Jeder der vier Bereiche kann mit einem klei-nen Wählrad im Armaturenbrett direkt angesteuert werden. Danach genügen Fingertipps von Fahrer oder Beifahrer für die wichtigsten Funktionen, ohne sich zuvor durch alle Untermenüs quälen zu müssen.

Dennoch offenbarte

der F 600 beim Test einen Schwachpunkt. Als der stern den Forschungswagen nach der Premierenfahrt wieder in den Hangar stellte, notierte Projektleiter Hölzel "Sound-Engineering" auf einem Zettel. Stimmt. Dem Mercedes der Zukunft müssen dringend künstliche Motorgeräusche eingepflanzt werden. Nicht, damit Machos ihre Show bekommen. Vielmehr als Personenschutz. Denn den lautlos nahenden F 600 können Fußgänger und Radfahrer nicht mehr hören.

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Peter Weyer