Das Slash X Café bei Barstow ist eine einsame Kneipe am Rand der Mojave Wüste in Kalifornien, eine dunkelbraune Holzbude auf staubigtrockenem Sandboden. Die Scheiben sind ziemlich blind, aber das stört nicht, denn sie sind sowieso total mit Stickern beklebt. Zu besichtigen sind nackte Mädels, Reklame für extra-breite Jeep-Reifen und viele Sorten Bier. Seit einiger Zeit haben die harten Jeeper und Biker im Slash X Café ungewohnte Gesellschaft: Uni-Typen, die stundenlang auf die Bildschirme ihrer Notebooks starren und mit rasender Geschwindigkeit auf die Tastatur hämmern. Die Wasser statt Bier trinken, und auch mal gemischten Salat bestellen statt einen anständigen Burger. Doch Slash X Stammkunden finden das alles ziemlich cool, denn sie wissen, wer die neuen Gäste sind: schlaue Burschen von der berühmten Stanford Universität in Palo Alto, Computerfreaks. Und sie wissen auch, warum die sich hier im ländlichen Barstow herumtreiben. Der Grund heisst Stanley und parkt vor der Tür. Es ist ein VW Touareg-Geländewagen in metallic grau. Um das Auto drängen sich Sebastian Thrun, deutscher Leiter des Labors für künstliche Intelligenz an der Uni Stanford, Mike Montemerlo, Informatiker in Thruns Abteilung, David Stavens, Hendrik Dahlkamp und Andrei Aron, Studenten der Computerwissenschaft. "Stanley hier ist die größte Sache, die ich je angegangen bin", sagt Sebastian Thrun. "Eine intellektuelle Herausforderung. So etwas ist noch nie dagewesen!" Und damit schwingt sich der Boss auf den Beifahrersitz, David setzt sich ans Steuer, Hendrik und Mike nehmen die Rückbank und los geht’s. Andrei folgt im Mietwagen. Nach ein paar hundert Metern auf Asphalt biegen die Fahrzeuge links ab, auf eine sandige Wüstenpiste.
"Dem Touareg ein Gehirn eingebaut"
Ab jetzt fährt Stanley selbst. Autonom. David fasst das Steuer nicht an. Der Student behält die Strecke im Auge, hält nur den Finger bereit, einen roten Notfall-Aus-Knopf zu drücken. Stanley gibt selbstständig Gas und beschleunigt, bremst, weicht Hindernissen aus, umfährt kleine Felsen und Gebüsche, tastet sich langsam durch Kurven, biegt ab und findet seinen Weg. Wie von Geisterhand bewegt, zuckt das Lenkrad leicht nach links und rechts. Gespenstisch geradezu, zielstrebig wie der Wagen auf eine flache Böschung zuhält, plötzlich langsamer wird, offenbar irgendetwas überlegt, dann seine Richtung korrigiert. Zügig fährt er einen Anstieg hinauf, navigiert den Abstieg eher vorsichtig. Auf der folgenden geraden Piste wirbelt er mit knapp 40 Sachen Staub auf. Nach drei Stunden Fahrt im intelligenten Touareg grinst David erleichtert und glücklich. "Super", jubelt Team-Chef Thrun. Zum ersten Mal hat Stanley eine so lange Strecke fehlerfrei bewältigt. "Drivers not required", Fahrer nicht nötig, steht in dicken Lettern über einem der Hinterräder. Das Ding ist ein Roboter. "Wir haben dem Touareg ein Gehirn eingebaut", sagt Informatiker Thrun. Das besteht aus sechs leistungsstarken Pentium M-Computern, aus Laser-Entfernungsmessern, Kameras und Radar sowie GPS-Navigationssystem und Gyroskop. Stanley muss damit sehen, analysieren und entscheiden. Das Roboter-Auto wird sein Gehirn in Topform brauchen. Es ist einer der Favoriten in der sogenannten "Grand Challenge" am 8. Oktober, einem Rennen von 20 autonomen Fahrzeugen irgendwo in der Wüstenlandschaft zwischen Barstow und Las Vegas. Organisiert wird die Wettfahrt von DARPA, der Forschungsagentur des US-Militärs. Die DARPA ist bekannt dafür, ungewöhnliche, riskante und manchmal ziemlich schräge Forschungsprojekte zu fördern. Diese enden längst nicht immer erfolgreich, aber die Agentur kann sich zum Beispiel rühmen, die ersten Pläne fürs Internet entwickelt zu haben. Das inzwischen weitverbreitete Global Positioning System (GPS) wurde ebenfalls mit DARPA-Unterstützung entwickelt.
Tagsüber wird getestet, nachts an der Software gearbeitet
Bei der Grand Challenge warten zwei Millionen Dollar auf das Team mit dem schnellsten Roboter-Auto, das eine Gelände-Strecke von etwa 240 Kilometern in weniger als zehn Stunden bewältigen muss. Beim Vorjahres-Wettbewerb rumpelte ein hochgerüsteter Hummer von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh gerade 12 Kilometer weit, bevor er vom Kurs abkam und mit einem festgefahrenen, brennenden Vorderreifen aufgeben musste. Das darf Stanley natürlich nicht passieren. Das Stanford Racing Team, etwa 40 Wissenschaftler und Studenten, schuftet seit 14 Monaten enthusiastisch daran, unterstützt von ein paar Sponsoren mit tiefen Taschen. Jetzt ist Stanley wettkampfbereit. Hunderte von Test-Kilometern hat er hinter sich. Das Team hat aufgehört, die Tage in Barstow zu zählen, die Abende am "all you can eat"-Buffett im Sizzler’s Restaurant, die Burger im Slash X; die Nächte im Hotel am Rechner. Tagsüber wird Stanley getestet, nachts die Software überarbeitet und verbessert. Team-Chef Thrun ist überzeugt: "Diesmal wird ein Roboter die Strecke schaffen!" Etwa Stanley? "Warum nicht?" Jedesmal, wenn der dynamische Professor etwas Optimistisches zu dem Projekt sagt, kriegt er einen Dämpfer von Mike Montemerlo. Mike, der die komplizierte Software für Stanley schreibt, schüttelt pessimistisch den Kopf: "Ich weiß es nicht. Wie schwierig wird DARPA die Strecke gestalten? Die machen das ja nicht aus Jux. Ist die Software wirklich robust genug?"
Der Knackpunkt ist die Software. "Hier steht die Maschine im Mittelpunkt, nicht der Mensch", sagt Thrun. "Ein Auto ohne Fahrer war bisher nicht denkbar. Unser Stanley muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Er muss wissen, was er als Straße erkennt, was befahrbar ist. Er muss wissen, wie schnell er wann fahren kann. Und er muss wissen, wo er ist und wo er hin will." Gigantische Herausforderungen. "Die Wahrnehmung in der Distanz ist ein enormes Problem", seufzt Hendrik Dallkamp, deutscher Student in Thruns Team. "Stanley kann nur so schnell fahren, wie er das Terrain erkennt. Um doppelt so schnell zu fahren, muss der Roboter viermal so weit sehen können."
Laser gibt ein 3-D-Image
Damit das klappt, hat Stanley einen Laser für den Nahbereich, eine Kamera für die mittlere Entfernung und ein Radar für die Entfernung bis etwa 60 Meter. Die pausenlos eintreffende Datenflut muss vom bordeigenen Computersystem blitzschnell und effektiv ausgewertet werden, sonst bleibt Stanley hilf- und ratlos stehen oder fährt ziellos ins Gelände. Zu langsam darf er auch nicht sein, sonst ist die Zeitvorgabe nicht zu schaffen.
Woher weiß Stanley, was eine Straße ist? "Schwierig, schwierig", sagt Thrun. Und versucht, es einfach zu erklären: Der Laser gibt ein 3-D-Image von Stanleys näherer Umgebung. Als Strecke akzeptiert er das, was flach ist, keine Hindernisse aufweist und befahrbar erscheint. Dann wird analysiert, welche Kamerabilder mit dieser Strecke korrespondieren, welche Oberfläche im entfernteren Gelände also genauso aussieht. Daraus entwickelt der Computer eine Art endgültige Strecke, die Stanley abfahren kann. Steht zum Beispiel ein Autowrack im Weg, würde dies vom Radar erkannt und als zu umfahrendes Hindernis kategorisiert. Relativ einfach. Viel schwerer fällt Stanley zu entscheiden, ob das kleine rundliche Hindernis mitten auf der Piste ein Busch ist – platt machen – oder ein Felsen – ausweichen.
Zwei Millionen Dollar Preisgeld
"Grundsätzlich haben wir Stanley so programmiert, dass er ausweicht", grinst Thrun. Die Strecke selbst ist durch ein paar tausend GPS-Wegpunkte markiert, die programmiert werden. Alle Teams erhalten zwei Stunden vor Beginn des Wettbewerbs eine CD mit den Daten. Aber die Wegpunkte allein sind nicht akkurat genug, um Stanley (und die Konkurrenz) auf dem richtigen Kurs zu halten. Ohne die Sensoren läuft nichts. So geht es auch an diesem langen Wochenende in Barstow mal wieder darum, die perfekte Lasereinstellung zu finden. Nachdem die Software eine Stunde lang überarbeitet worden ist, rollt Stanley erneut los. Und fährt Schlangenlinie auf der geraden Sandpiste. Thrun jammert: "Warum eiern wir hier rum wie ein besoffenes Eichhörnchen, Leute?" Kollege Montemerlo guckt genervt. Stanley sieht manchmal Phantom-Hindernisse, ein kompliziertes Software-Problem, das heute Nacht in Angriff genommen werden muss. Alles dreht sich um Wahrnehmung und Identifikation. Thrun: "Menschen haben kein Problem, Daten sinnvoll zu interpretieren, die vom Computer als fehlerhaft, unübersichtlich oder unsauber eingestuft werden." DARPA setzt keine zwei Millionen Dollar Preisgeld aus, ohne etwas dafür zu erwarten. Das Ziel der US-Militärs: In zehn Jahren soll jedes dritte Bodenfahrzeug der Streitkräfte ein unbemanntes Roboter-Auto sein. Und die Autofirmen testen dabei auch die sogenannten Fahrer-Assistenzsysteme, die dem Lenker immer mehr Stress abnehmen sollen. Sebastian Thrun: "Kennen wir nicht alle jemand, der einen Unfall hatte? Schwer verletzt wurde?" Spur halten, Abstand wahren, Hindernisse erkennen, kritische Situationen früh erfassen – Funktionen, die im normalen Straßenverkehr entscheidend sind und die ein Fahrzeug autonom handhaben könnte. Der Fahrer wird entlastet, das Fahren sicherer.
Klingt gut. Doch zwischen dem Roboter und der Autobahn liegt noch eine lange, steinige Wüstenpiste bei Barstow. Starrköpfig gehorcht Stanley bei der nächsten Testrunde nur für 30 Kilometer. Dann macht er einen Fehler, der ihn am 8. Oktober aus dem Rennen werfen würde. "Keine Panik, Jungs", sagt Software-Spezi Mike Montemerlo plötzlich erstaunlich optimistisch, "unser Baby wird es schon schaffen."