Die Großstädte in Deutschland stehen an einem Scheideweg. Der Städtebau der Nachkriegszeit wird schon der Gegenwart nicht mehr gerecht, der Zukunft schon gar nicht. Gemäß der damaligen Ideologie der Trennung der Funktionen wurden die Innenstädte zu Konsum- und Bürozonen umgebaut. Wohnen sollte man woanders, zum Shoppen und Arbeiten sollte man pendeln.
Das zentralisierte Einkaufserlebnis kriselt seit Jahren. Erst drohte die Konkurrenz von der Grünen Wiese, dann die aus dem Internet. Die einst beherrschenden Kaufhäuser gibt es nicht mehr. Die Corona-Pandemie greift nun die zweite Säule des Konzepts an: das Arbeiten. Gerade die Büroarbeitsplätze der Innenstädte sind am stärksten ins Homeoffice abgewandert und es ist unwahrscheinlich, dass nach der Pandemie die alten Verhältnisse wieder einkehren.
Jahrzehntelang haben die Städte über die Pendler und den mit ihnen verbundenen Verkehr geklagt. Nun müssen sie sich fragen: Wie sieht die Stadt aus, wenn es deutlich weniger Pendler gibt und womit verdienen wir das Geld?
Die Stadt als ewiges Event
Was passiert, wenn man nicht reagiert, machen die Zentren der Mittelstädte vor. Sie veröden und werden von Spielhallen und Ein-Euro-Läden bevölkert. Dass es auch anders geht, zeigen Städte wie Oslo und Kopenhagen– oder im kleineren Maßstab auch Stadtviertel wie Ottensen in Hamburg. Menschen und nicht Funktionen werden die Stadt der Zukunft bestimmen. In der Stadt zu sein, muss Begegnungen ermöglichen und es muss zum Erlebnis werden. Nur um ein TV-Gerät zu kaufen, muss niemand in die Stadt fahren.
Das eigene Auto hat in der Innenstadt ein Kardinalproblem, dass auch ein emissionsfreier Antrieb nicht lösen kann, und das ist sein enormer Platzverbrauch. Marco Granelli, stellvertretender Bürgermeister von Mailand, sagte zu den Umbaumaßnahmen der Stadt. "Wenn jeder ein Auto fährt, gibt es keinen Platz für Menschen, es gibt keinen Platz zum Bewegen, es gibt keinen Platz für kommerzielle Aktivitäten außerhalb der Geschäfte." Im nicht benutzten Zustand beansprucht ein Pkw zwischen 10 und 15 Quadratmetern Parkfläche und das 23 Stunden am Tag. Im Betrieb steigert sich das weiter: Inklusive Sicherheitsabstand werden es fast 100 Quadratmeter. Der Pkw bringt daher ein Dilemma mit sich: Er beansprucht fast die ganze Straßenfläche, kann aber nur abgestellt und betrieben werden, wenn nur eine kleine Minderheit der Bewohner ihn nutzt. Die Option "Pkw für jeden" bestand in der Stadt nie. Der Unterschied ist, heute interessieren sich die nicht autofahrenden Anwohner in der Regel nicht dafür wo und wie Pendler ihr Fahrzeug abstellen sollen. Sie wollen die Straße zurück. In manchen Ländern geht es schneller, in andere langsamer, doch überall wird dem Auto Platz abgenommen. In Berlin und Münster, Düsseldorf und Frankfurt am Main werden Straßen für Kraftfahrzeuge gesperrt. Der Hamburger Jungfernstieg soll den Fußgänger zurückgegeben werden.
Elektrifizierung
Der Verkehr wird sauberer werden. Die Politik hat die Weichen bereist gestellt: Die Zeiten des Verbrenners sind vorbei, das Zeitalter des E-Autos beginnt. Die Innovationsprämie führt derzeit dazu, dass viele E-Autos weit billiger sind als vergleichbare Verbrenner. Städter können aufatmen: Die Luftverschmutzung durch Emissionen aber auch durch Abriebe wird massiv zurückgehen, ebenso die Lärmbelästigung. Die Stadt wird gesünder.
Teilen statt Stehen
Ein Ausgleich gibt es, wie seit etwa zehn Jahren das Angebot der öffentlichen Verkehrsmittel durch Sharing-Angebote ergänzt wird. Sie ermöglichen es, ein Auto ohne viel Aufwand auch für kurze Zeit zu mieten. Der Kunde muss nicht mehr die relativ hohen Grundkosten eines Autos tragen, nur um es einmal in der Woche zu benutzen. Bei anderen Sharing-Angeboten wie Fahrräder, Motorroller oder E-Scooter ist das Kostenargument zweitrangig. Hier ist es die Gelegenheit: Man kann die Fortbewegungsmittel spontan überall in der Stadt nutzen.
Die E-Bike-Revolution
Im gleichen Zeitraum erlebte das Fahrrad eine Renaissance als Fortbewegungsmittel von Erwachsenen, dieser Trend hat durch den Siegeszug der E-Bikes deutlich Fahrt aufgenommen. Der E-Biker fährt häufiger und längere Strecken. Mit dem E-Rad sind Entfernung bis zu 12 Kilometern auch für unsportliche Personen akzeptabel. Damit sind die deutschen Innenstädte leicht erfahrbar.
Der Kampf um die Straße
Das Problem ist nur: Wo sollen die kleineren Verkehrsmittel fahren? Der Krieg um den Straßenboden ist unvermeidlich. Städte wie Stockholm und Kopenhagen sind weit fortgeschritten in diesem Transformationsprozess und leiden, obwohl die Städte nicht mehr autogerecht aufgestellt nicht an einer Verödung der City. Der schwierigere Zutritt wird durch den Zuwachs an Attraktivität mehr als aufgewogen.
Das anspruchsvollste Projekt will die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidago verwirklichen. Mit dem Versprechen, die Stadt den Menschen zurückzugeben, hat sie die letzte Wahl gewonnen. Ihr Plan sieht vor, die Fahrbahn in allen Wohnstraßen zurückzubauen. Es soll dort nur noch Radwege und eine gemeinsame Zone für Fußgänger, Lieferverkehr und andere geben – das Tempolimit wäre Schrittgeschwindigkeit. Öffentliche Parkplätze wird es kaum noch geben. Gleichzeitig werden auch die großen Verkehrsachsen zurückgebaut und das Tempo reduziert.
Diese Verkehrsmittel werden helfen
Leichtkraftfahrzeuge werden in der Stadt der Zukunft eine wichtige Rolle spielen, wenn die Politik es will. Dabei handelt es sich um Fahrzeuge, die deutlich kleiner, billiger und leichter als ein herkömmlicher Pkw sind. Ihre Geschwindigkeit ist reduziert, für Reisen sind sie ungeeignet. Derartige Modelle gibt es für den Lastentransport und für den Personenverkehr – in Deutschland bietet Citroën den Ami an. Sie passen von vornherein besser in die lebenswerte City als ein überdimensioniertes SUV. Durchsetzen werden sie sich aber nur dort, wo die Politik die Mini-Autos belohnt und das Halten größere Fahrzeuge bestraft. So wie es in vielen Städten Asien passiert: Wer einen SUV benutzen will, muss zwingend einen eigenen Parkplatz nachweisen, wer auf öffentlichen Grund stehen will, muss ein Mini-Vehikel benutzen.
Autonome Fahrzeuge
Autonome Fahrzeuge werden den Verkehr in der Stadt sanfter und fließender gestalten. Drängeln, Hupen, Geschwindigkeitsübertretungen – all das macht ein autonomes Fahrzeug nicht. Es fährt vorsichtig und zurückhaltend. Durch die Vernetzung der Autos untereinander, wird der Verkehr intelligent, Staus können weitgehend vermieden werden. Gleichzeitig werden autonome Fahrzeuge den öffentlichen Verkehr revolutionieren. Man ruft sie wie ein Taxi und wird zum gewünschten Ziel gebracht. Und das zu einem vertretbaren Preis, denn es fallen keine Lohnkosten an.
Verkehr strebt in die Höhe
Um den Menschen die Straßen zurückzugeben, könnte der öffentliche Verkehr in die Höhe verlagert werden. Auch eine Busspur ist für Fußgänger eine verlorene Asphaltfläche. Eine Seilbahn hingegen würde über der Straße schweben. Das Gleiche gilt für Magnetschwebebahnen und Monorail-Systeme.
Was ist mit den Pendlern?
Pkw-Pendler werden es schwerer haben. Wenn aber größeren Gruppen dauerhaft ins Home Office umsiedeln, wird der Berufsverkehr nachlassen. Diejenigen, die sich eine City-Maut leisten können und die über einen Parkplatz in der Tiefgarage verfügen, werden weiterhin mit ihrem E-Auto in die Stadt fahren. Aber das Grundrecht überall einen freien, kostenlosen Parkplatz zu finden, wird es nicht mehr geben.
Was wird in Deutschland geschehen?
Radikale Schritte wie in Paris wird man in Deutschland nicht erleben. Die Pariser Bürgermeisterin wird allein von den Bewohnern der Stadt gewählt und nicht von den Bewohnern der Vorstädte. In Berlin und Hamburg wählen die Pendler dagegen mit und die echte City ist nur ein Teil des Stadtgebiets. Dazu kommen Gesetze und Vorschriften. Die heutige StVO geht auf die 1930er-Jahre zurück. Adolf Hitler war nicht nur der Führer, er war auch Deutschland erster Autokanzler. Nach wie vor geben Normen und Vorschriften dem Kraftverkehr Vorrang vor anderen Interessen. Hinzu kommen die klammen Kassen der Kommunen. Für einen wirklichen Umbau der Stadt reichen die aufgemalten Pop-up-Lanes nicht aus, dazu müssten die Straßen komplett neugestaltet werden, und das kostet Geld, das nicht vorhanden ist. Doch der Druck an der Basis wächst. Laut einer Umfrage wünschen sich 71 Prozent der Kölner eine autofreie Innenstadt.