So ist das also. Am Morgen schon herrscht unter dem Stichwort oder besser dem Hashtag (Hash - das Rautezeichen) "#rp10" Hochbetrieb auf der Sozialplattform Twitter. Sekündlich teilt irgendjemand der Weltöffentlichkeit mit, dass er nun unterwegs sei zur "Re:Publica 2010" in Berlin. Ein Hamburger will wissen, ob es eine Mitfahrgelegenheit gibt? Ein anderer fleht um Tipps, wie man rund um den Friedrichstadtpalast, den zentralen Veranstaltungsort, einen Parkplatz findet. Ein anderer twittert, dass er nun schon in der Akkreditierungsschlange wartet. Es sind verdammt analoge Probleme, die die digitale Vorhut zu diesem Zeitpunkt beschäftigen auf ihrer Reise zu einem Treffen, das in der deutschen Internet-Gemeinde mittlerweile den Status eines Kirchentags in Deutschland hat.
"Die digitale Gesellschaft wird Realität"
Das Interesse ist enorm. 2522 Menschen, berichtet Konferenz-Mitorganisator Markus Beckedahl, hätten sich bis Dienstagabend zu der dreitägigen Veranstaltung in Berlin-Mitte angemeldet. Und es würden noch mehr. 2007, als die Veranstaltung das erste Mal abgehalten wurde, habe er 700 Teilnehmer gezählt, sagt Beckedahl. Bis Freitag gibt es insgesamt 165 Einzelveranstaltungen, Vorträge, Diskussionen, Workshops, Vorführungen, mit dabei ist viel Internet-Prominenz, unter anderem der umtriebige US-Blogger Jeff Jarvis, aber auch die Medienprofessorin Miriam Meckel oder der Außenpolitikexperte Evgeny Morozov.
Dabei drehen sich alle Veranstaltungen im Kern um die Frage: Wie soll das Internet, der Lebensraum Netz, in Zukunft gestaltet werden? "Nowhere" lautet entsprechend das Motto, das mit der Doppeldeutigkeit der englischen Begrifflichkeiten spielt: "now here" heißt "jetzt hier", "nowhere" heißt "nirgends". "Die digitale Gesellschaft wird Realität", sagt Beckedahl. Aber die Entwicklung stehe erst am Anfang, man wisse nicht genau, wo es hingeht - und das müsse diskutiert werden. Abgehalten wird die Veranstaltung im Zentrum Berlins, im traditionsreichen Friedrichstadtpalast in der Nähe des S-Bahnhofs Friedrichstraße, im Quatsch Comedy Club, in der Kalkscheune. Das Ambiente entspricht dem der Berlinale, des Filmfestivals, oder dem eines Parteitags. Am Eingang hängen Banner mit den Sponsoren, als "Give-Away" werden sogar Umhängetaschen an die Teilnehmer ausgegeben - daran kann man sich in Zukunft gut erkennen.
Wer gestaltet das Internet?
Es ist der politische Arm der Generation "Neon", der sich hier trifft, eine junge Generation - ein niederländischer Teilnehmer bezeichnete alle Wesen über 35 Jahre als "ältere Menschen". Die Teilnehmer sind im Netz heimisch, viele bloggen. Es geht ihnen vor allem darum, dass ihre Kommunikation nicht überwacht wird, sie wollen die Freiheit des Internets bewahren. Sie haben das Internet als Lebensraum entdeckt oder sind sogar darin aufgewachsen - und wollen gestalten. Modisch gekleidet sind die Teilnehmer, Typ: gepflegt-lässig. In der überwältigenden Mehrzahl handelt es sich um alles - nur nicht um picklige Computernerds.
Zur Standardausstattung, auch bei den Kritischsten aller Kritischen, gehört das iPhone, das Lifestyle-Accessoire im politischen Diskurs über Twitter, über Blogs - oder in der analogen Welt. Und gebildet ist diese Gruppe, was man schon alleine daran ablesen kann, dass viele Vorträge auf Englisch gehalten werden - ohne Übersetzung. "Wir haben in den vergangenen zwei Jahren die entstehende Politisierung einer jungen Generation erlebt", sagt Beckedahl, "wie wir sie seit der globalisierungskritischen Bewegung vor zehn Jahren nicht mehr erlebt haben."
Ob es sich bei dieser Gruppe um eine soziale, vielleicht sogar politische oder netzpolitische Bewegung handelt, darüber mögen sich soziologische Hauptseminare streiten. Sicher ist: Längst interessiert sich nicht nur mehr eine avantgardistische Gruppe für die Gestaltung des Lebensraums Internet. Darf Google mich fotografieren? Was macht Facebook mit meinen Daten? Sollen kinderpornografische Seiten gesperrt werden? Wer darf was über mich wissen? Die Beantwortung dieser Fragen interessiert längst auch breite Nutzerschichten, Journalisten, Politiker. Daher ist die "Re:publica" spätestens in diesem Jahr zu einem Medienereignis geworden: Jeder aus der jüngeren Medienszene ist dabei oder hat auf jeden Fall schon etwas von der Konferenz gehört. Wer die "Re:publica" nicht kennt, outet sich als Ignorant, im Foyer des Friedrichstadtpalastes drehen Kamerateams verschiedener Fernsehsender.
"Man wird damit nicht reich"
Wie spannend die Diskussionen sein können, zeigt gleich der erste Vormittag der Veranstaltung. Der Schriftsteller Peter Glaser analysiert treffend-feuilletonistisch das Leben in einer Gesellschaft, in der fast alle Informationen immerzu verfügbar sind, räsoniert klug über die Bedeutung des Ausschaltknopfes. Morozov, Dozent an der US-Universität Georgetown in Washington, zerlegt akribisch den Mythos, dass die Plattform Twitter die Schlagkraft der gescheiterten Grünen Revolution im Iran im vergangenen Jahr gestärkt hat und US-Tausendsassa Jeff Jarvis philosophiert, rhetorisch brillant, argumentativ etwas gewunden, über die Lehren in punkto Privatheit, die daraus zu ziehen sind, dass die Deutschen sich zwar gegen die Kameras von Google Street View sperren, gleichzeitig aber leidenschaftlich ihre Geschlechtsteile, die privatesten aller Körperteile, zur Schau stellen - in Saunas oder am FKK-Strand. Am Donnerstag und Freitag wird es um ähnlich schwere Themen gehen, um Netzneutralität, die Frage also, ob Internetanbieter manche Daten schneller durchs Netz fließen lassen sollen als andere, aber auch um die Rolle von Wikileaks, jener Seite, die es sich zur Mission gemacht hat, geheime Dokumente zu veröffentlichen - und die in der vergangenen Woche mit einem Video zum Vorgehen von US-Soldaten im Irakkrieg weltweite Aufmerksamkeit erregte.
Für Beckedahl ist das Ereignis schon jetzt in jeder Hinsicht ein Erfolg, auch in geschäftlicher: Alle Dauertickets sind verkauft. Die Firma Newthinking Communications, die Beckedahl mitgehört, die die Veranstaltung mit dem Blog Spreeblick organisiert, dürfte ein Plus schreiben. "Man wird damit nicht reich, aber wir machen damit kein Minus", sagt Beckedahl. Insgesamt 15 feste Mitarbeiter beschäftigt der Betrieb. Und auch den netzpolitischen Anliegen Beckedahls, der sich selbst als Aktivist und Lobbyist begreift, dürfte die Veranstaltung helfen. "In Deutschland hatten wir immer das Problem, dass alle Diskussionen rund um das Internet eher rückwärtsgewandt waren", sagt er." Auf einmal fangen die Medien, die das Thema jahrelang verschlafen haben, an, über das Thema Internet zu diskutieren. Die Politik beginnt, uns ernst zu nehmen. Etwas Besseres kann uns nicht passieren - aber es müssen auch Taten folgen."