Es ist tiefe Reue, die in den Gesichtern zu sehen ist. "Als ich dort arbeitete, war ich mir immer sicher, dass wir grundsätzlich etwas Gutes getan haben. Aber das Gefühl habe ich nicht mehr." Dieser Satz eines ehemaligen Twitter-Chefentwicklers Alex Roetter setzt den Ton der neuen Netflix-Doku "The Social Dilemma". Wie so viele ehemalige Entwickler und Manager des Sillicon Valley, die in der Doku zu Wort kommen, wollte er die Gesellschaft besser machen. Und brachte sie aus seiner Sicht stattdessen an den Rande des Abgrundes.
Schuld ist die Funktionsweise der sozialen Netzwerke, da sind sich alle Beteiligten sicher. Denn die sind nicht aus Zufall so süchtig machend. "Die meisten Menschen denken: Google ist nur dieser Suchschlitz. Und bei Facebook kann ich sehen, was meine Freunde machen und ihre Bilder sehen. Was sie nicht begreifen: Diese Firmen kämpfen um unsere Aufmerksamkeit", erklärt der ehemalige Google-Mitarbeiter Tristan Harris. Und die wollen sie mit allen Mitteln halten.
Alles für die Aufmerksamkeit
Die ganze Erfahrung in den Netzwerken ist daher nur darauf ausgelegt, uns an sie zu fesseln. "Unsere größte Erkenntnis nach all den Tests war: Wir müssen jeden Nutzer innerhalb von zehn Tagen auf sieben Freunde hoch bekommen. Dann haben wir ihn", erklärt Chamath Palihapitiya. Er war bei Facebook als Vizechef früher für das Wachstum zuständig. Heute will er mit dem Konzern nichts mehr zu tun haben. "Meine Kinder dürfen den Scheiss nicht nutzen", erklärte er vor einiger Zeit.
Das liegt sicher auch daran, dass Palihapitiya heute als einer der Architekten der aktuellen Modelle gesehen wird. Um Facebooks Wachstum zu steigern, zeigte er sich enorm kreativ – und legte damit den Grundstein für die Anreiz-Systeme, die nun überall im Silicon Valley als Basis für den geschäftlichen Erfolgsmodell gelten. Als erster begann er wissenschaftlich testen zu lassen, welche neuen Features wie angenommen werden. Und so im Laufe der Zeit auf die optimale Lösung zu kommen. "Wir wollen psychologisch herausfinden, wie wir euch so schnell wie möglich manipulieren können", brachte es Palihapitiya später in einer Panel-Diskussion auf den Punkt. "Und dann belohnen wir euch mit eurer Dopamindosis." Ähnlich wie bei Ratten im Labor, die für erwünschtes Verhalten belohnt werden.
Die Folgen der Likes
Selbst die Verantwortlichen sind nicht vor ihrer Kreation gefeit. "Ich konnte mein Handy nicht weglegen, wenn ich nach Hause kam", erinnert sich Tim Kendall. Er war Präsident von Pinterest, nachdem er bei Facebook als Monetarisierungschef die Werbung als Geschäftsmodell eingeführt hatte. "Obwohl ich Zuhause zwei Kinder hatte, die meine Liebe, meine Aufmerksamkeit brauchten." Stattdessen habe er Mails geschrieben, auf Pinterest gestöbert. "Es war ironisch. Ich baute tagsüber etwas, dem ich dann abends selbst zum Opfer fiel. Und ich konnte es nicht unterdrücken." Heute erlaubt er seinen Kindern quasi gar keine Bildschirme.

Die bewusst induzierte Sucht nach den Likes und der digitalen Aufmerksamkeit wäre schon schlimm genug. Doch zusätzlich verändert sie auch unser Verhalten. "Es die kleine, kaum wahrnehmbare Veränderung unserer Wahrnehmung und unseres Verhaltens, das verkauft wird", erklärt der Tech-Philosoph und Virtual-Reality-Pionier Jaron Lanier. "Es ist das einzige wirkliche Produkt. So verdienen sie Geld: Indem sie verändern, wie wir denken. Was wir tun. Wer wir sind."
Dazu sammeln die Konzerne unvorstellbare Mengen von Daten über uns. "Alle Klicks die wir je gemacht haben, alle angesehenen Videos, alle Likes – das macht unser Modell immer präziser. Und dann kann man vorhersagen, was ein Mensch tun wird", fasst Shoshona Zuboff, Harvard-Professorin und Erfinderin des Schlagwortes Überwachungs-Kapitalismus, zusammen. "Es ist fast, als ob sie eine Voodoo-Puppe von uns hätten."
Manipulation als Geschäftsmodell
"Es ist wie bei einem Hacker: Man nutzt eine Schwachstelle aus. Nur in diesem Fall eben in der Psyche", erklärt Sean Parker, der erste Facebook-Investor. Den meisten Menschen ist er aus dem Film "The Social Network" bekannt, in dem er von Justin Timberlake gespielt wurde. "Und wir alle, Mark (Zuckerberg), Kevin Systrom von Snapchat, ich – wir taten es trotzdem. Obwohl uns das voll bewusst war."
Dieses Verhalten hat tiefgreifende Folgen. "Wir bauen unser Leben um eine gefühlte Perfektion herum, weil wir auf kurze Sicht mit den Herzen, Likes und Daumen hoch belohnt werden", glaubt Palihapitiya. "Und wir verbinden das für uns selbst mit Wert und mit Wahrheit. Aber tatsächlich ist es nur eine falsche, sehr brüchige Form der Popularität. Und lässt uns am Ende leerer zurück als vorher. Es ist ein Teufelskreis."
Der Terminator ist schon da
Auch für die gesellschaftliche Spaltung der letzten Jahre sehen die Befragten die sozialen Netzwerke in der Verantwortung: Die kontroversen Themen würden einen einfach länger fesseln. Deshalb würden einem Youtube-Nutzer auch so oft Verschwörungs-Theorien wie die Flat-Earth-Theorie vorgesetzt, erklärt Guillaume Chaslot. Er hat für Googles Videodienst den Empfehlungs-Algorithmus entwickelt - und empfiehlt in der Doku Plug-Ins um ihn abzustellen.
"Wenn wir daran denken, dass künstliche Intelligenz die Welt erobern wird, denken wir an den Terminator", lacht Harris. "Aber wir begreifen gar nicht, dass KI unsere Welt schon längst beherrscht." Die Algorithmen, die entscheiden, was wir genau gezeigt bekommen, werden längst nicht mehr alleine von Menschen geschrieben. Sie lernen selbstständig, wie sie das optimale Ergebnis - noch mehr Aufmerksamkeit - erreichen. "In diesen Firmen gibt es nur sehr wenige Menschen, die verstehen, was die Algorithmen tun- Und selbst die verstehen sie nicht mehr im Detail", erklärt der ehemalige Facebook-Manager Sandy Parakilas. "Es ist fast, als ob wir die Kontrolle verloren hätten."
Um die zurückzuerlangen, da sind sich alle Protagonisten einig, müssen sich die Firmen und ihr Geschäftsmodell verändern. Durch politische Regulierung, aber auch, indem wir unser eigenes Verhalten ändern. "Klickt nie auf empfohlene Inhalte. Wählt immer selbst", empfiehlt Lanier. Gleich mehre Beteiligte raten dazu, die Benachrichtigungen der Apps abzuschalten. Und das Smartphone nur zur Hand zu nehmen, wenn es einem gerade wirklich passt. "Man sollte wirklich darüber nachdenken, das viele Leute aus der Industrie ihren eigenen Kindern nicht diese Geräte geben", merkt Harris an. Die Frage, ob wir das Ruder noch einmal herumreißen können, ist für ihn eigentlich keine. "Wir müssen es schaffen", antwortet er ernst.
The Social Dilemma ist bei Netflix zu sehen.