Wer glaubte, dass die Sommeroffensive an einem toten Punkt angelangt ist, hat sich getäuscht. Beide Seiten verstärken ihre Anstrengungen, trotz der bisherigen Verluste. Seit über zwei Wochen startet die Ukraine Angriffe entlang der Frontlinie, um in das russische Stellungssystem einzubrechen. Bislang sind die Ergebnisse bescheiden, was die Geländegewinne angeht. An mehreren Stellen konnten Kiews Truppen etwa fünf bis sieben Kilometer tief in russisch-kontrolliertes Gebiet eindringen und dabei einige kleine Siedlungen einnehmen.
Kiews Truppen erlitten dabei Verluste. Die russischen Befestigungen, die zuvor belächelt worden sind, erwiesen sich schon im vorderen Vorpostenbereich als widerstandsfähig. Insbesondere erlitten die Ukrainer Verluste durch die großen Minenfelder der Russen. Zugleich rächte es sich, dass die Ukraine keine Luftherrschaft über dem Einsatzgebiet erlangt hat. Kiews Jets wurden häufig schon im Anflug von russischen Abfangjägern angriffen. Die Russen selbst konnten mit Hubschraubern in die Bodenkämpfe eingreifen. Sie beschossen ukrainische Kolonnen, konnten dabei aber so weit entfernt blieben, dass sie von tragbaren Abwehrraketen, sogenannten Manpads, nicht erfasst werden konnten.
Lücke im Informationsraum
Die strikte Schweigepolitik der Ukraine rächte sich im Informationsraum. Die Russen fluteten die sozialen Medien mit Videoclips ihrer Erfolge – darunter auch Abschüsse von deutschen Leopard-Panzern. Während Kiews Truppen zunächst kaum Videos verbreiteten.
Dann wurde eine operative Pause angekündigt, tatsächlich aber intensivierte Kiew die Anstrengungen. Zum ersten Mal wurden die strategisch wichtigen Brücken zwischen Krim und Festland angegriffen und auch beschädigt. Dabei handelt es sich nicht um "die" Krim Brücke zwischen der Krim und Russland, es sind Brücken über die Landverbindung zur Ukraine in Richtung Cherson. Obwohl es geografisch eine "Landbrücke" ist, ist das Gebiet von Sümpfen und Wasserläufen durchzogen.

Angriff auf Nachschublinien
Die Treffer – vermutlich durch Luft-Boden-Raketen vom Typ Storm Shadow verursacht – haben die Beschädigungen hinterlassen, die aber repariert werden dürften. Doch die Ukrainer werden diese Angriffe wiederholen und die für den Nachschub entscheidenden wichtigen Brücken früher oder später zerstören. Damit wiederholen sie ein Muster, das in der Schlacht um Cherson erfolgreich war. Nachdem die Brücken über den Dnjepr zerstört wurden, konnten die Russen ihre Truppen auf der gegenüberliegenden Seite nicht länger versorgen. Sie mussten das Gebiet aufgeben. Ein kampfloser Rückzug der Russen ist nun nicht zu erwarten. Doch diese Art von Kämpfen mit dem massiven Einsatz von Artillerie verbraucht sehr viel Material, das ununterbrochen ins Kampfgebiet gebracht werden muss. Weniger Nachschub wird die russische Abwehr beeinträchtigen.
Gleichzeitig zeigt Kiew wieder mehr Videos von Treffern eigener Kamikaze-Drohnen. Sie dokumentieren russische Verluste an Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen. Offenbar gelingt es den ukrainischen Truppen in den letzten Tagen, verstärkt diese Drohnen einzusetzen. Zu Beginn der Offensive konnten die Russen die Geräte der Ukrainer massiv stören. Die Ukrainer versuchen ihre Einbrüche bei Vremivka und Pjatychatky zu vertiefen. Gleichzeitig wollen sie mit einer neuen Anstrengung Bachmut an den Flanken umfassen.
Russische Angriffe im Norden
Es ist schwer abzuschätzen, ob die Intensivierung der Kämpfe von Kiew so beabsichtigt war. Die Ukraine reagiert damit auch auf russische Angriffe im Norden der Front. Dort, wo die Ukrainer die Russen im letzten Herbst nordöstlich von Charkiw zurückgeworfen hatten.
Nun gehen die Russen in einer Zone östliche der Kleinstädte Lyman und Sewersk – Oblast Donezk – vor. Noch weiter nördlich flammen die Kämpfe bei Kupjansk – Oblast Charkiw – auf. Dabei scheinen die Russen Geländegewinne gemacht zu haben. Doch besetzten sie bislang nur Wald und Felder und keine größeren Siedlungen. Ihre mechanisierten Kräfte stoßen auf die gleichen Schwierigkeiten wie die Ukrainer – Minen, Drohnen und Artillerie.
Mit diesen bislang begrenzten Angriffen versuchen die Russen, Druck von der übrigen Front zu nehmen. Offenbar war das von langer Hand geplant, denn in diesem Raum, in dem ukrainische Angriffe kaum zu erwarten waren, befinden sich russische Großverbände. Sie können versuchen, so viel Druck auszuüben, dass Kiew hier Reserven einsetzen muss. Sollten den Russen größere Erfolge gelingen, geht das Momentum der Kampfhandlungen auf sie über. Um das zu vermeiden, muss Kiew in anderen Gebieten aktiv werden.
Harte Kämpfe bei geringen Bewegungen
Damit geht die Sommeroffensive in eine neue Phase. Diese ganze Operation "irritiert", weil sie anders verläuft, als die landläufigen Erwartungen an eine "Offensive" erwarten lassen. Statt beweglicher Gefechte und tiefer Operationen, sehen wir ein erbittertes Hin und Her entlang der Kontaktlinie. An der ganzen Front tobt eine Abnutzungsschlacht. Eine Form des Kampfes, die den Krieg seit dem letzten Herbst dominiert. Sollte eine Seite die unausweichlichen Verluste nicht mehr ersetzen können, wird die Front am Boden in Bewegung kommen.