Seit über einer Woche greifen ukrainische Streitkräfte die russische Frontlinie an. Derzeit konzentrieren sich die Kämpfe auf einen kleinen Zipfel im Donbass – den russischen Frontvorsprung bei Vremivka. In der letzten Woche erlitten die Ukrainer bittere Niederlagen. Sie verloren einen signifikanten Anteil ihrer Minenräumpanzer, dazu wurden Schützenpanzer vom Typ Bradley und deutsche Leopard-2-Panzer zerstört, noch bevor sie überhaupt an den Feind gelangt waren. Bei Vremivka gelang dann aber auch der erste signifikante Einbruch in die russischen Stellungen. Dabei konnten die Dörfer Vremivka, Neskuchne, Storozheve, Blahodatne und Makarivka befreit werden. Alle Orte sind kleine Ansiedlungen. Sie liegen aneinandergereiht wie eine Perlenkette an einem Fluss (Mokri Yal River). Alle Namen folgen der Schreibweise bei Google Maps. Insgesamt sind die Ukrainer etwa fünf Kilometer tief in das von Russen gehaltene Gebiet eingedrungen.
Mehr Truppen für einen Frontzipfel
Seit Sonntag führen beide Seiten weitere Truppen heran. Kiew soll Infanterie und Panzerbrigaden in den Raum verlegt haben, dazu weitere Artillerie – diese Einheiten wurden zuvor als frontnahe Reserven an anderen Teilen der Front eingesetzt. Sie gehören nicht zur strategischen Reserve, die für den großen Schlag der Offensive aufgespart wird. Doch auch so werden immer mehr Truppen in den Kampf um ganz unbedeutende Ortschaften verwickelt. Warum sind diese Orte auf einmal so wichtig?
Diese Orte spielen die gleiche Rolle wie Bachmut, nur im kleineren Maßstab. Für sich genommen kommt ihnen keine strategische Bedeutung zu, sie erwächst aus ihrer Rolle im jeweiligen Verteidigungssystem. Kiew hat Bachmut lange gehalten, weil die Stadt wie ein Wellenbrecher vor der letzten große Verteidigungslinie im Donbass liegt. Um diese Linie zu schützen, musste Bachmut verteidigt werden. Die kleinen Ortschaften gehören nun zum äußeren Perimeter des russischen Festungssystems. Kiew muss sie erobern, um die russische Hauptverteidigungslinie angreifen zu können. Noch liegen 10 bis 15 Kilometer zwischen Kiews Spitzen und dieser Linie.
Postion für den eigentlichen Angriff
Entlang des Flusses befinden sich weiter Orte. In Staromajorske haben die Russen eine Verteidigung aufgebaut, noch weiter südlich liegt Staromlyniwka. Dieser Ort ist das eigentliche Ziel dieser Phase der Offensive. Wenn Kiews Streitkräfte Staromlyniwka erreichen, brechen die russischen Stellungen nördlich der Hauptverteidigungslinie zusammen. Kiew hätte dann selbst ein Sprungbrett für weitere Operationen, denn in dem Ort laufen mehrere Straßen zusammen. Die Kontrolle der wenigen ausgebauten Straßen in der Gegend ist für das Militär zentral. Russen und Ukrainer sind auf sie angewiesen, um ihre Truppen zu versorgen.
Kiew hat und wird weiter versuchen, im offenen Gelände östlich von Fluss und Ortschaften mit gepanzerten Truppen vorzustoßen und so die russischen Stellungen entlang des Flusses zu umgehen und an der Flanke zu bedrohen. Bisher haben sich die Russen dann zurückgezogen.
Kämpfe aus der Distanz
Von den wenigen Bildern, die man sehen kann, unterscheiden sich die Kämpfe stark von denen in Bachmut. Während in der Kleinstadt auf kleinstem Raum und bei geringen Distanzen um jedes Haus gekämpft wurde, werden Nahkämpfe offenbar vermieden. Der Grund ist einfach: Die Russen versuchen die ukrainischen Verbände aus der Distanz mit Minen, Artillerie, Drohnen und Lenkwaffen zu bekämpfen. Haben sie Erfolg, müssen sich die überlebenden Ukrainer zurückziehen. Gelingt es den Russen nicht, den Konvoi aus der Ferne zu bekämpfen, wäre es sinnlos, dass die Infanterie im offenen Gelände den Kampf gegen eine gepanzerte Kolonne aufnimmt. Sie zieht sich zurück. Wenn sie es nicht schafft, wird die Position zusammengeschossen. Die Russen suchen den Erfolg bislang in Gegenangriffen, die sie mit Artillerie und Bombardements vorbereiten. Bei Staromajorske und erst recht Staromlyniwka dürften sie den Widerstand verstärken.
Die Ukraine braucht den Erfolg in diesem Raum, um ein Sprungbrett für den großen Schlag zu bekommen, daher saugt der kleine Frontvorsprung immer mehr Truppen auf. Die Russen hingegen werden versuchen, Kiews Einheiten möglichst lange in Gefechte vor ihrer Hauptlinie zu verwickeln. Es ist zu erwarten, dass Orte häufiger den Besitzer wechseln und dass das Gefecht beweglicher als in Bachmut bleibt. Karten mit klaren Linien suggerieren eine Eindeutigkeit der Kontrolle, die es so gar nicht gibt.
Hin und Her des Frontverlaufs
In diesen Tagen versuchen die Russen, die Ukrainer aus einem Teil der Dörfer wieder zu vertreiben. Nicht, indem sie die Ortschaften stürmen, sondern in dem sie den Ukrainern durch Artillerie und Bombardements zusetzen. Von einem Höhenzug östlich des Flusslaufes können sie die Dörfer und die Straße im Talgrund einsehen. Kiews Truppen hingegen werden versuchen, die Russen von Osten aus dem Ort Rivnopil' kommend in die Zange zu nehmen, so dass diese die Position auf der Höhe räumen müssen. Hat Moskau Erfolg, werden die Ukrainer erneut zurückgeworfen. Gewinnt Kiew wird Staromajorske das nächste Ziel sein.
Über die Erfolgsaussichten kann man derzeit nichts sagen. Auffällig sind jedoch die Parallelen zur Schlacht um den Kursker Frontbogen, dem Unternehmen Zitadelle. Russland benutzt die gleiche Ermüdungsstrategie wie Stalin – in einer zeitgemäßen, smarten Version. Damals wie heute lautet das Kalkül des Kreml, die besten Truppen des Angreifers zu erschöpfen, bevor sie die letzte russische Verteidigungslinie erreichen. Diesen Fehler muss Kiew unbedingt vermeiden.