Kiew konzentriert seine Angriffe auf Bachmut und den Süden der Front. Doch ganz im Norden rücken die Russen vor. Zwar sehr langsam, aber bislang konnten sie nicht gestoppt werden. Ihr Ziel ist die kleine Stadt Kupjansk, sie kontrolliert die Nachschubwege der ukrainischen Streitkräfte. Kupjansk ist daher eine Schlüsselstellung. Sollte die Stadt, die vom Oskil-Fluss geteilt wird, fallen oder auch nur an mehreren Seiten eingeschlossen werden, müssen die Ukrainer damit rechnen, dass die Russen im Norden über den Fluss hinwegsetzen und sich der P79 nähern. Hier liegen auch die von Kiew in diesen Tagen evakuierten Dörfer. Kiew nimmt offenbar an, dass sich das Kampfgeschehen Richtung Charkiw verlagert.
Kampf um Versorgungslinien
Dazu geraten alle befreiten Gebiete süd-östlich von Stadt und Fluss in Gefahr, da sie durch die Stadt und die Straße P07 versorgt werden. In der Gegend hält Kiew einen großen Frontvorsprung. Die russischen Truppen kommen aus dem großen Waldgebiet nördlich von Kupjansk und rücken ähnlich mühsam vor wie die Ukrainer in deren Sommeroffensive. Doch in der letzten Zeit gelang den Russen ein langsamer, aber dennoch kontinuierlicher Vormarsch. Nördlich der Stadt sollen sie den Ort Syn'kivka erreicht haben. Doch er wird noch von der Ukraine gehalten, von Syn'kivka sind es etwa sieben Kilometer bis Kupjansk. Die Gegend ist nur leicht bebaut. Am nördlichen Rand von Kupjansk bieten Industriebauten den Verteidigern bessere Positionen, vor der Stadt liegen noch die Siedlungen Petropavlivka und Kucherivka (Alle Ortsnamen folgen der Schreibweise von Google Maps).
Druck auf den ganzen Frontbogen
Neben dem Hauptstoß auf die Stadt Kupjansk greifen die Russen entlang des ukrainischen Frontbogens südöstlich der Stadt an. Hier wollen sie die Versorgungsstraße P07 unterbrechen. Noch ist die Situation gefährlich, aber nicht kritisch. Dennoch muss Kiew den weiteren Vormarsch der Russen stoppen oder gar umkehren. Moskau muss die Stadt Kupjansk nicht besetzen, das könnte Monate dauern. Die Lage wird unhaltbar, sobald die Ukrainer die Nachschubwege durch die Stadt nicht benutzen können. Sie benötigen sie für die Versorgung der Truppen, im Falle einer Niederlage aber auch für einen geordneten Rückzug.
Vorgehen nach Lehrbuch
Die russische Offensive entspricht in mancher Hinsicht dem Lehrbuch. Zwei Monate lang stürmten Kiews Truppen gegen Russlands Verteidigungslinien an. Die russische Front gab an einigen Stellen um ein paar Kilometer nach, hielt aber stand. In diesen zwei Monaten wurden die eingesetzten Truppen deutlich abgenutzt. Wer wie viel Material und Männer verlor, kann kaum gesagt werden. Man sollte aber annehmen, dass der Angriff über vermintem Gelände auf befestigte Positionen verlustreicher ist als die Verteidigung. Zumal die Russen bei Artillerie und Luftwaffe überlegen sind. In dem Moment, in dem eine Offensive ihren Höhepunkt erreicht hat und ein Großteil der Offensivkraft verbraucht ist, ist der ideale Zeitpunkt für einen Gegenstoß. Und so sind die Russen seit Anfang August selbst offensiv geworden. Mit den offensiven Operationen im Norden zwingt Moskau Kiew, dort Kräfte einzusetzen, die eigentlich für die eigene Sommeroffensive benötigt werden. Schickt Kiew nicht neue Truppen nach Norden, drohen dort größere Geländeverluste. Dann wäre es möglich, dass Russland hier mehr Quadratkilometer besetzt, als die Ukrainer anderenorts befreit haben.
Bodenkrieg ist nicht zu stoppen
Kiew steht vor einem Dilemma. Derzeit scheint es aussichtsreicher, mit Angriffen in der Tiefe durch Drohnen und Marschflugkörper den Gegner zu schwächen. Doch der Bodenkrieg kann nicht einfach abgestellt werden. Zum einen ist Kiew ein Gefangener der hohen Erwartungen an die Sommeroffensive. Würde sie heute abgebrochen werden, könnte man nur drei Einbruchszipfel ins russisch besetzte Gebiet vorweisen, die ohne weitere Anstrengungen vermutlich wieder verloren gehen. Die Wirkung auf die eigene Bevölkerung, aber auch auf die westlichen Unterstützer wäre fatal. Darüber hinaus kann die ukrainische Regierung die russischen Operationen nicht stoppen. Wenn der Kreml die Kraft findet, eigene Vorstöße durchzuführen, geht der verlustreiche Bodenkrieg weiter.
Damit droht ein zweiter Bachmut-Winter, in dem Russland langsam aber unaufhaltsam weitere Eckpfeiler der ukrainischen Front zuerst komplett zerstört, um dann die Trümmer zu besetzen. Unglücklicherweise spielt die Zeit für Putin. In etwa zwei Monaten wird die Matsch- und Regensaison in der Ukraine beginnen. Auch dann kann diese Form des "Zeitlupen-Krieges" weitergeführt werden. Doch sobald die Felder unpassierbar sind, wird es kaum mehr möglich sein, doch noch einen tiefen Einbruch in die russischen Stellungen zu erreichen.