Präsident Selenskyj ist das Gesicht des ukrainischen Widerstands. Gutaussehend, telegen und von den richtigen PR-Beratern umgeben, absolviert er tägliche seine Auftritte, um die Stimmung im Land und – fast noch wichtiger – bei den Unterstützern zu beeinflussen. Der Kampf selbst wird von einem General geleitet. Und Walerij Saluschnyj führt diesen Kampf, Zeit für PR-Auftritte bleibt ihm nicht.
Inzwischen hat der General drei Phasen des Krieges gemeistert. Zuerst konterte er den Ansturm der damals noch weit überlegenen russischen Angriffskeile und verhinderte, dass die Hauptstadt Kiew und die Großstadt Charkow in die Hand des Feindes fielen.
Erfolgreich in drei Phasen
Dann gelang es, ihm die nächste Phase der russischen Invasion zu überstehen, die Donbassoffensive. Der Widerstand hier wirkt weniger glorreich, dürfte aber weit anspruchsvoller gewesen sein, als es den Anschein hat. Und schließlich gelang ihm ein wahres Kunststück. Obwohl nur geringe Kräfte zur Verfügung standen, führte der kühne Gegenangriff östlich von Charkow dazu, dass die russische Front in diesem Abschnitt kollabierte und Moskau die besetzten Regionen in diesem Gebiet fluchtartig räumen musste.

Umbau des Militärs
Die größte Leistung von Saluschnyjs dürfte vor dem Beginn der Kampfhandlungen stattgefunden haben, nämlich der Aufbau eines Militärs, das zu solchen Erfolgen in der Lage ist. In den Jahren zwischen 2014 und 2022 löste sich die Ukraine von einem Militär, das im Niedergang einer post-sowjetischen Erstarrung gefangen war.
Das Militär der UdSSR war an starre Befehlskette gewohnt, an eine starke Trennung des Generalstabs und der Truppenoffiziere. Die Soldaten, die Unteroffiziere und die Offiziere, die sie unmittelbar anführten, galten in dieser Doktrin nur als Instrument der höheren Führung. Eigeninitiative, selbständige Entschlüsse waren nicht vorgesehen. Verstärkt wurde dieses strukturelle Defizit durch überkommene Rituale innerhalb der Soldaten und die generell schlechtere Ausbildung der Rekruten einer Wehrpflichtarmee.
Anti-Napoleon-Strategie
Dennoch galt die Ukraine zum Zeitpunkt des russischen Einmarsches als hoffnungslos unterlegen. Und war es wohl auch, dass es nicht schon zu einer Niederlage in der ersten Kriegswoche kam, ist der Hybris Putins geschuldet – aber vor allem der Kühnheit Walerij Saluschnyjs. Denn er wählte den schwierigen und damals sicher unpopulären Entschluss, nicht zu versuchen, die Russen an der Grenze aufzuhalten. Denn damit hatte Russland gerechnet, die hochgerüsteten gepanzerten Truppen des Kremls waren darauf ausgelegt, jeden Gegner in offener Feldschlacht zu zerschlagen. Also bot Saluschnyj ihnen diese Schlacht nicht an. Er stoppte sie erst in den Vorstädten von Kiew und Charkow – eine Umgebung, auf die die Russen nicht vorbereitet waren. Und in der sich sofort, der größte Mangel ihrer Invasionsarmee zeigte: der Mangel an Soldaten. Denn der Krieg im urbanen Gelände saugt Truppen wie ein Schwamm auf. Gleichzeitig hielten seine Truppen weitere Städte im russisch besetzten Hinterland.
Nun begann nicht der von Moskau erhoffte Krieg der Panzerarmeen, sondern der Krieg der Kommandosoldaten. Unablässig wurden die langen Nachschublinien der Russen attackiert. Moskau erlitt kontinuierlich Verluste und war gleichzeitig nicht in der Lage, etwa bei Kiew immer mehr Truppen einzusetzen, um die Hauptstadt wirklich abzuschneiden. Schließlich musste Russland die Operationen um Charkow und Kiew abbrechen, die Befreiung der zuvor besetzten Gebiete war der erste sichtbare Erfolg von Saluschnyj.
Was von den russischen Besatzern übrigblieb – die Gebiete im Nordosten nach ihrer Befreiung

Seine Methode wurde schon Napoleon-Strategie genannt. Genau genommen müsste man sie wohl die Anti-Napoleon Strategie von Kutusow nennen, aber da dieser General ein Russe war, ist das Naming wohl nicht so opportun. Kutusow erkannte, dass er die Grande Armee Napoleons in offener Schlacht nicht besiegen könnte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Napoleon wohl auch Moskau kampflos einnehmen können. Dazu kam es nicht, der Zarenhof drängte den Militär, die Schlacht bei Borodino anzubieten. Es wurde einer der schwersten Siege Napoleons. Doch die Idee von Kutusow war anders: Er verweigerte Napoleon den Sieg. Der machte es sich in der Hauptstadt bequem, doch die russischen Truppen schnitten ihn vom Nachschub ab, griffen die Franzosen an, sobald sie ihre festen Plätze verließen. Als dann auch noch Moskau brannte, musste sich Napoleon zurückziehen. Nur ein kleiner Rest der Grande Armee gelang es, den Rückzug zu überstehen.
Kein Durchbruch für Moskau
Nach diesem Sieg kam die schwerste Phase für die Ukraine. Russland konzentrierte sich auf die Donbass-Offensive. Deren Motto könnte man mit "Keine Fehler machen" übersetzen. Anstatt großer Operationen vertrauten die Russen auf die Wucht ihrer Artillerie. Dorf um Dorf, Stadt um Stadt zerschossen sie, bis nur noch Staub übrig war. Trotz all der Bunker und Verteidigungsanlagen konnten Kiews Truppen hier dauerhaft keine Position halten. Sie wurden zermürbt und kontinuierlich zurückgedrängt.
Diese Phase war verlustreich und brachte keinen Ruhm. Im Nachhinein war sie dennoch ein Erfolg. Der hinhaltende Widerstand führte dazu, dass der Kreml den Donbass nicht einnehmen konnte. Stets gelang es, eine neue Linie zu halten, wenn ein Dorf verloren ging. Moskau konnte auch bei einem Sieg kein Momentum in der Bewegung erzielen. Fiel eine Mauer, standen Putins Truppen schon vor der nächsten. Im Großen und Ganzen hielt auch die Moral der Verteidiger in dieser Phase des Zurückgehens.
Und nun lieferte Saluschnyj sein Meisterstück ab: den erfolgreichen Gegenschlag bei Charkow. Hier zeigte der General eine Mischung von Kühnheit, Kaltblütigkeit und Härte, wie sie bedeutenden Militärs eigen ist und die sich auf der Gegenseite nicht findet. Die Operation im Norden wurden von einer vorausgehenden Offensive bei im Süden Cherson gedeckt. Die war lange angekündigt und wurde auch militärisch - etwa durch den Beschuss von Brücken - in der Gegend vorbereitet. Die Russen waren also gewarnt und verlegten ihre Reserven in diesem Raum. Kiew konnte Einbrüche und Gewinne erzielen – musste wohl aber auch erhebliche Verluste hinnehmen. Und eben gerade, als man sich eingestand, dass die Cherson-Offensive nur ein kleiner Erfolg – wenn überhaupt – beschieden war, erfolgte der eigentliche Schlag im Norden.
Kopie einer Wehrmachts-Offensive
Mit vergleichsweise kleinen leicht motorisierten Kräften gelang es den Ukrainern, die russische Front zu durchbrechen. Die von Truppen der dritten Linie nur dünn besetzt war. Nach dem Durchbruch stießen Kiews Kräfte weiter vor, sie suchten kein Gefecht, sondern stifteten Verwirrung unter den Besatzern im Hinterland. Nun zeigte sich erstmals, wie schwach Putins Armee wirklich ist. Der ganze Raum wurde von Einheiten der Nationalgarde und der Donezker Republik gehalten. Eine dünne vordere Linie ist allein nicht ungewöhnlich, aber ganz offenkundig hatten die Russen keine starken mechanisierten Reserven in dem Raum, die den Einbruch hätten abriegeln können. Hinter der ersten Linie befanden sich nur Trümmer abgenutzter Truppenteile, die nicht zu einem konzentrierten Gegenangriff zusammengefasst werden konnten.
Am erstaunlichsten an diesem Angriff ist, dass es sich um eine Kopie einer Wehrmachtsoperation aus der Zweiten Schlacht um Charkow handelt, die jedem Generalstabsoffizier in der Region bekannt sein musste. Der Durchstoß bis zum Fluss Oskil, dann der zeitliche versetzen Angriff aus dem Süden und der Schwenk der Angriffsgruppe entlang des Flusses waren vorhersehbare Manöver, gegen die die Russen mangels Reserven kein Rezept fanden.
Der Gegenstoß bei Charkow wird diesen Krieg nicht in einer Schlacht entscheiden. Doch Saluschnyj hat hier gezeigt, dass Kiew siegen kann. Nicht mit einer Operation, aber diese Operation hat die Schwäche der russischen Armee schonungslos offengelegt. Durch den kühnen Angriff von nur etwa 10.000 Mann wurde ein ganzer Abschnitt aus den Angeln gehoben und über 6000 Quadratkilometer befreit. Gelingen weitere Operationen dieser Art, wird Moskau den Krieg verlieren.