Krieg in der Ukraine Putins Sturm im Norden – diese Angst lähmt Kiews Offensive

Ukrainische Truppen feuern mit einem Raketenwerfer der Sowjetära.
Ukrainische Truppen feuern mit einem Raketenwerfer der Sowjetära.
© Serhii Nuzhnenk / Reuters
Kiew nimmt an, dass Russland 180.000 Mann im Norden bei Kreminna und Bachmut zusammengezogen hat. Sobald Kiew alle Truppen im Süden in den Kampf schickt, könnten diese Truppen im Norden angreifen.

Kiews Sommer-Offensive verläuft nicht so wie geplant. Oberst Reisner vom österreichischen Bundesheer bezeichnete gegenüber NTV die erste Phase der Offensive unlängst, glattweg als gescheitert. Die Gründe sind vielfältig. Der Ukraine fehlt eine nennenswerte Luftwaffe, bei der Artillerie ist sie den Russen massiv unterlegen. Dazu zeigte sich, dass die russischen Verteidigungsstellungen, die zuvor von westlichen Experten belächelt wurden, sehr viel leistungsfähiger als angenommen sind.

Zu wenig für eine Entscheidung

Darüber hinaus hat der bisherige Einsatz der ukrainischen Truppen viele Kommentatoren irritiert. Als erstmals westliches Kriegsgerät im Kampfgebiet auftauchte, war deutlich, dass es sich weit mehr als nur um bewaffnete Aufklärung der russischen Stellungen handelte. Dafür wurden zu viele Soldaten eingesetzt und auch die Verluste waren zu groß. Andererseits waren es nie genug Truppen, um einen "Schwerpunkt" zu bilden und einen Durchbruch zu erzwingen. So ein Durchbruch durch die russischen Stellungen hätte in der Anfangsphase immer Verluste gekostet, aber auch die Chance geboten, danach im Rücken der Russen manövrieren zu können und die Invasoren abzuschneiden oder gar einzukesseln.  So aber stürmte die ukrainische Armee unentwegt voran, erlitt fraglos auch schwere Verluste, konnte die Russen aber jeweils nur 1000 Meter von einem Grabensystem in das nächste zurückdrängen. Wobei die meisten Angriffe abgewiesen wurden und überhaupt keinen Geländegewinn brachten.

Die Frage lautet also: Worauf wartet der Großteil der ukrainischen strategischen Reserve? Etwa sieben von den zwölf neu aufgestellten Brigaden haben bislang nicht in die Kämpfe eingegriffen.

Drohung im Norden 

Serhiy Cherevaty, der Sprecher der Ostgruppe der Streitkräfte der Ukraine, lüftete das Geheimnis. Er sagte dem Kanal "RBC Ukraine", dass Russland 180.000 Mann im Norden zusammengezogen habe. 50.000 werden bei Bachmut eingesetzt. 100 Kilometer weiter bei Lyman und Kupjansk sind weitere 120.000 Soldaten im Einsatz. Unter ihnen sind Luftlandetruppen, mechanisierte Brigaden, Reserve- und Territorialtruppen und spezielle Sturm- und Infiltrationseinheiten wie "Sturm Z". Darunter befinden sich auch die Verbände der 1. Gardepanzerarmee. Die Zahl ist auch so erschreckend, weil die 25.000 Mann Wagner-Söldner nicht mitgezählt werden, die noch vor Kurzem in dem Gebiet waren, 

 Etwa eine Woche nach Beginn der ukrainischen Offensive begannen die Russen, im Norden an verschiedenen Abschnitten aktiv zu werden. Bei Kubjansk und bei Kreminna rücken die Russen im Schutz von großen Waldgebieten vor. Bisher allerdings mit ähnlich begrenzten Erfolgen wie die ukrainischen Truppen. Kiew hat die eigenen Anstrengungen bislang auf den Süden konzentriert. In der Zone zwischen Dnjepr und Donbass wäre ein Erfolg besonders verlockend, denn hier könnten die ukrainischen Truppen bis zum Meer verstoßen und so das russisch besetzte Gebiet in zwei Teile spalten.

Druck auf Charkiw

Schon vor der ukrainischen Offensive fiel allerdings auf, dass das Gros der russischen Invasionstruppen nicht in diesem Gebiet steht, sondern bei Bachmut und weiter nördlich. Hier war und ist nicht mit einem ukrainischen Angriff zu rechnen. Für die Russen ist die Gegend günstig, weil sie dort die besten logistischen Verbindungen ans eigene Land besitzen. Dazu sind sie näher an ukrainischen Städten, deren Verlust Kiew auf jeden Fall verhindern muss. Die Befürchtung lautet nun: Sollte Kiew seine Reserven im Süden in den Kampf schicken, könnten die Russen im Norden mit aller Kraft angreifen und versuchen, Kiew alle Eroberungen der ukrainischen Charkiw-Offensive wieder abzunehmen. Sind die sieben Brigaden erstmals in Kämpfe gebunden, können sie nicht nach Norden geworfen werden, um die Russen aufzuhalten.

Warten auf die nächsten Gamechanger

Die bloße Möglichkeit dieser Offensive neutralisiert die ukrainische Angriffskraft. Für Kiew wäre das ein Teufelskreis. Wenn dieses Kalkül richtig ist, steht zu befürchten, dass das stumpfe Sterben der letzten Woche weitergehen wird. Und Moskau Kiew so erneut einen Krieg nach Moskauer Bedingungen aufzwingt, einen ewigen Abnutzungskrieg. Und diese Form des Krieges entscheidet das Gesetz der großen Zahlen. Offenbar hat Russland heute, anders als im letzten Jahr, bereits mehr Soldaten in der Ukraine als Kiew. Die Ukraine versucht derzeit mit einer neuen Mobilisierungswelle weitere Truppen aufzustellen, um das Verhältnis zu verbessern. Der Kreml hat angedeutet, auf weitere Mobilisierungen zunächst zu verzichten. Angeblich melden sich genug Freiwillige. Gemäß Moskau hätten sich 2023 bereits über 130.000 Mann freiwillig gemeldet. Sie würden derzeit ausgebildet. Sind die Angaben richtig, dürfte Russland seine Invasionsarmee Ende des Sommers weiter massiv aufstocken. Kiew dagegen hofft, mit Kampfjets vom Typ F-16 und weiteren Fernwaffen aus dem Westen die Lage am Boden grundlegend ändern zu können. Ob diese neuen “Gamechanger” den Krieg entscheiden, bleibt abzuwarten. 

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