Perlen der Kreml-Propaganda Kreml tüftelt neue Erklärung für Wagner-Aufstand aus – und bescheinigt Putin ein Verbrechen

Dmitri Kisseljow im Studio seiner Show. Er gibt traditionell den Kurs der Kreml-Propaganda bekannt.
Dmitri Kisseljow im Studio seiner Show. Er gibt traditionell den Kurs der Kreml-Propaganda bekannt. 
© Screenshot Rossija 1/stern
Der Aufstand der Wagner-Söldner erwischte die Kreml-Propaganda auf falschem Fuß – genauso wie den Kreml selbst, der kein Handbuch für die Propagandisten parat hatte. Eine Woche lang tüftelte man daran. Die Ergebnisse präsentierte traditionell nun Dmitri Kisseljow. 

Eine Woche nach dem gescheiterten Aufstand von Jewgeni Prigoschin und seiner Wagner-Söldner hat die Propaganda-Maschinerie des Kremls offensichtlich das endgültige Handbuch zur Verkaufe des Desasters erhalten. Traditionell übernahm Dmitri Kisseljow die Rolle des Herolds und verlas in seiner sonntäglichen Sendung "Westi Nedeli" (Nachrichten der Woche) die neue Leitlinie.

Der Direktor des Medienunternehmens "Rossja Sewodnja", das unter der Dachmarke "Sputnik" Nachrichtenportale und Radiosender in 30 Sprachen betreibt, ist einer der einflussreichsten Akteure des Propaganda-Apparats des Kreml. Mal fordert Kisseljow, die Herzen von homosexuellen Unfallopfern dürften nicht für Transplantationen genutzt werden, sondern gehörten "verbrannt oder vergraben, weil sie zum Leben nicht taugen". Mal erklärt er, Russland könne jederzeit die USA in "radioaktive Asche" verwandeln, was ihm den Spitznamen "Mister radioaktive Asche" eingebracht hat. (Mehr dazu erfahren Sie hier.)

Egal um was es geht: Wenn es am Sonntag dunkelt, gibt Kisseljow vor, was alle Propagandisten in der darauffolgenden Woche ihrem Publikum einzutrichtern haben. Nun erklärte er, was die Russen von dem Wagner-Aufstand zu halten haben. 

"Das große Geld hat Prigoschin um den Verstand gebracht"

An allem sei das liebe Geld schuld – so das neueste Narrativ der Propaganda. "Das große Geld hat Prigoschin um den Verstand gebracht. Und das Gefühl der erlaubten Willkür, die er bereits seit den Zeiten in Syrien und Afrika verspürt, und das sich seit der Einnahme von Soledar und Artjomowsk (der russische Name für Bachmut) verstärkt hat", erklärte Kisseljow als halte er eine medizinische Diagnose in den Händen. 

Prigoschin habe sich eingebildet, dass er sich sowohl dem Verteidigungsministerium als auch dem Staat und dem Präsidenten persönlich entgegenstellen kann. "Putin spricht von grenzenlosen Ambitionen und persönlichen Interessen, die zum Verrat geführt haben. Viele denken übrigens, dass die Weigerung des Verteidigungsministeriums die Milliarden-Verträge mit dem Prigoschin-Unternehmen Concord bezüglich der Lebensmittelversorgung der Armee zu verlängern, ein wichtiger Faktor für den Aufstand war", führte Kisseljow selbstgerecht aus, allerdings ohne diejenigen zu benennen, die diese Meinung vertreten sollen. 

"Um das ganze Ausmaß der Ambitionen zu verstehen, reicht es lediglich zwei Zahlen zu nennen", ging der Propagandist zum zentralen Punkt über. "Die von Prigoschin gegründete private militärische Organisation Wagner hat im Rahmen von Staatsverträgen etwas mehr als 858 Milliarden Rubel erhalten. Das ist fast eine Billion", spuckte Kisseljow in der ihm eigenen Manier jedes Wort einzeln aus. Umgerechnet sind es rund 8,8 Milliarden Euro.

"Im Rahmen weiterer Verträge hat die Prigoschin-Holding Concord Dienstleistungen im Wert von 845 Milliarden Rubel erbracht. Das heißt nicht, dass genauso viel verdient wurde. Aber es zeigt die Maßstäbe der Geschäfte und die Maßstäbe der Ambitionen", schlussfolgerte "Mister radioaktive Asche".

Kreml-Propaganda bescheinigt Putin Verfassungsbruch 

Doch wie so oft: Ohne es zu merken, brachte die Kreml-Propaganda mit der neuen Parole ihren eigenen Chef in eine denkwürdige Lage. Denn nach der russischen Verfassung sind private militärische Organisationen schlichtweg verboten. Man sollte also meinen, dass an der folgenden Frage kein Weg vorbeiführt: Wie konnte es sein, dass der Staat Verträge mit einer illegalen Söldnertruppe abschließt und mit Milliarden füttert? Doch Kisseljow stellte diese Frage nicht. Die Propaganda verlässt sich darauf, dass die Russen die eigene Verfassung nicht kennen. Und darauf, dass niemand weiß, dass die Wagner-Truppe nicht von Prigoschin gegründet worden ist.

Die Truppe gilt als ein Projekt des Militärgeheimdienstes GRU, die von dem GRU-Offizier Dmitri Utkin ins Leben gerufen wurde, nachdem er 2013 offiziell aus dem Militärdienst ausschied. Ihm haben die Söldner auch ihren Namen zu verdanken. Utkin ist als großer Bewunderer des Dritten Reichs und Adolf Hitlers bekannt. Er führte den Kampfnamen Wagner ein – zu Ehren des deutschen Komponisten Richard Wagner, den Hitler seinerseits verehrt hatte. 

Mehr Geld für Prigoschin als für das Gesundheitswesen 

Auf das Unwissen seines Volkes verlässt sich auch Putin selbst. Bevor Kisseljow von den Milliarden-Verträgen zu sprechen begann, räumte der russische Diktator erstmals selbst ein, dass die Wagner-Truppe vollständig vom russischen Staat ausgestattet worden sei. Zwischen Mai 2022 und Mai 2023 habe die Söldnergruppe mehr als 86 Milliarden Rubel erhalten, sagte Putin. 

Die Zahlen, die Kisseljow am Sonntagabend präsentierte, waren nur um das Zehnfache höher. Man ist wohl zu der Einsicht gelangt, dass sich die Summe von 86 Milliarden Rubel nicht dramatisch genug anhört. Wie viel Staatsgelder tatsächlich in die Wagner-Truppe geflossen sind, bleibt dabei unbekannt. Doch in dem Versuch, Prigoschin etwas anzukreiden, sind der Kreml und seine Propaganda gewillt, öffentlich einzugestehen, dass eine illegale Söldnertruppe mehr Geld vom Kreml bekommen hat, als die russische Regierung jährlich für das Gesundheitswesen oder die Bildung ausgibt. 

Laut dem Haushaltsentwurf für die Periode 2023–2025 sind in diesem Jahr für die Gesundheit 1,5 Billionen Rubel und für die Bildung 1,4 Billionen Rubel eingeplant. Glaubt man den Ausführungen von Kisseljow, so übersteigen die Staatsgelder für Prigoschin mit 1,7 Billionen beide Etats. 

Propaganda zerstört den Wagner-Mythos 

Doch auch diese Information enthält die Propaganda den Zuschauern lieber vor. Stattdessen wiederholte Kisseljow nochmals die inzwischen allgegenwärtige Kreml-Version des Geschehens: Putin habe durch seine Gnade gegenüber Prigoschin ein großes "brüderliches Blutvergießen" verhindert. Diese These wird im russischen Staatsfernsehen unablässig wiederholt. Anstatt Putin der Schwache soll der Kreml-Chef als Putin der Gnädige gesehen werden.

Unterdessen arbeitet die Propaganda-Maschine daran, den Mythos von Prigoschin zu zerstören – auch wenn man ihn vor nicht allzu langer Zeit selbst erschaffen hat. "Bei vielen ist der Eindruck entstanden, dass Wagner das Effektivste ist, was Russland an der Front zu bieten hat", fasste Kisseljow nun ungewollt das Ergebnis seiner eigener Arbeit zusammen und sprach etwas aus, was noch vor wenigen Monaten undenkbar war. 

"Mariupol mit fast 500.000 Einwohnern und allen seinen unterirdischen Systemen, das von hochmotivierten, gut ausgebildeten und ausgerüsteten Azow-Kämpfern verteidigt wurde, wurde von Einheiten des Verteidigungsministeriums innerhalb von etwas mehr als 70 Tagen eingenommen", erklärte Kisseljow – plötzlich voll des Lobes für ukrainische Soldaten. Für die Einnahme von Bachmut, dessen Einwohnerzahl um das Zehnfache kleiner sei, hätten die Wagner-Söldner hingegen 225 Tage gebraucht. "So viel zu der Frage der Effizienz. Jetzt ist Wagner weg, aber die Front ist nicht durchzubrechen. (...) PR ist das eine, die Realität das andere." Wenn es dem Kreml passt, erkennt Kisseljow den Unterschied also auch.