An einem heißen Sommertag schlenderte Tainá Guedes durch die Straßen von São Paolo in Brasilien, sie trug eine kurze Short. Auf der Straße begegnete ihr ein Mann, der ihr unverfroren in den Schritt fasste. Sie sei selber schuld, schließlich hätte sie mit ihrem Outfit seine Handlung provoziert. Damals war sie gerade einmal 13 Jahre alt – und das war erst der Beginn von systematischen Belästigungen und sexuellen Übergriffen von Männern.
Die heute 39-jährige Tainá wuchs in einer der größten Städte der Welt auf, mitten im Betondschungel von São Paolo: unpassende Berührungen, Sprüche, Pfiffe gehören hier zum Alltag. Eine ungewollte Hand auf dem Po oder der Brust ist keine Seltenheit. Tainás Vater Omar Guedes war Künstler. Die Mutter Lehrerin für Kunst und Literatur. Der Vater ist früh gestorben, sie war mit ihrer Mutter und Schwester allein. Als Alleinerziehende mit zwei Kindern hat man es in Brasilien nicht leicht, die Mutter wurde von Nachbarn als Prostituierte bezeichnet, den Töchtern das gleiche Schicksal prophezeit. Aber Tainá hatte Glück. Sie kannte die richtigen Leute - vor allem durch ihren Vater.

Der Küchenchef zwang eine Mitarbeiterin zum Sex
Mit 19 Jahren gründete sie zusammen mit einigen anderen Leuten ein japanisches Restaurant und managte es. Das Geschäft brummte, doch Belästigungen gehörten auch hier zum Alltag. Die Männer nutzten ihre Machtposition schamlos aus. So zwang der Küchenchef eine Mitarbeiterin zum Geschlechtsverkehr. Nicht nur einmal. Tainá fühlte sich ohnmächtig. "Vielleicht war ich naiv", erzählt sie dem stern in einem Gespräch. "In Brasilien ist das so. Es gab keine Anlaufstellen für Frauen. Ich konnte ihr nicht helfen. Wir weinten oft zusammen." Tainá selbst wurde vom Küchenchef zwar nicht sexuell belästigt, dafür aber nicht respektiert. Sie war eine Frau, ihre Herangehensweise dem Koch zu experimentell. Ihre Meinung nichts wert.
Belästigungen, Diskriminierung, Missbrauch. Frauen in der Gastronomie sind nicht gleichberechtigt, sagen Betroffene. Haben Sie auch schlechte Erfahrungen in der Küche oder in der Gastronomie gemacht? Schicken Sie uns - gern auch anonym - Ihre Erlebnisse an genuss@stern.de.
Mit Anfang 20 entschied sich Tainá ihr Land zu verlassen, den Spuren ihrer Wurzeln zu folgen und selbst eine Kochausbildung zu machen. Sie wollte in einem japanischen Restaurant kochen lernen. Japan, ein Land so anders als Brasilien, eine andere Philosophie, eine andere Sprache. Die Männer aber glichen denen in ihrer Heimat.
Frauen haben es schwer in der Gastronomie, vor allem, wenn sie attraktiv sind. Als Tochter einer Japanerin und eines Brasilianers sieht sie exotisch aus, ihre Statur ist sportlich schlank, ihre Bewegungen elegant.
In Japan hat Tainá etwas Schockierendes beobachtet: Die schönsten Kellnerinnen mussten sich zu den gut betuchten Gästen setzen und mit ihnen essen. Die Gäste haben Geld dafür bezahlt, dass sie die Kellnerinnen berühren und anfassen dürfen. "Das ist keine Prostitution, sondern Kultur in Japan. Ich aber hatte Glück, ich musste in der Küche bleiben, weil ich nur eine halbe Japanerin bin."
"Ich wurde nicht wahrgenommen"
In Düsseldorf wagte sie noch einmal einen Neuanfang. In einem japanischen Restaurant wollte sie ihre Fähigkeiten vertiefen: sowohl sprachlich als auch kulinarisch. In der Küche war sie die einzige Frau. "Ich wurde nicht wahrgenommen", sagt Tainá. Deshalb hat sie mehr geleistet als ihre männliche Kollegen: "Ich habe lange gearbeitet, habe geputzt und bin abends mit ins Karaoke gegangen."

Sie wollte um jeden Preis dazugehören, doch von Belästigungen blieb sie auch hier nicht verschont: Ein Koch hatte sich in sie verliebt und machte ihr Avancen, obwohl er Frau und Kind hatte. Er drückte Tainá an die Wand, wollte sie küssen, flüsterte ihr unangenehme Worte ins Ohr. Abends in der Karaoke-Bar fasste er Tainá an. "Ich war paralysiert", sagt Tainá. "Für mich ist es sehr schwer, Menschen zurückzuweisen. Ich habe Schwierigkeiten zu sagen, dass ich etwas nicht gut finde. Das liegt an meiner japanischen Kultur oder auch an meiner Persönlichkeit."
Am nächsten Tag musste Tainá wieder zurück in die Küche. Wie hat sie das durchgestanden? Mit harter Arbeit, die Belästigungen hat sie versucht, zu ignorieren.
Frauen werden in der Gastronomie diskriminiert
"Oft sind wir uns Belästigungen gar nicht bewusst", sagt die 39-Jährige. "Ich glaube, wir Frauen werden immer belästigt. Ich kenne so viele Frauen in der Gastronomie, deren Küchenchefs mit ihnen schlafen wollten. Wie aus einem schlechten Film."

Heute arbeitet Tainá nicht mehr in der Küche. Vielleicht auch wegen ihrer schlechten Erfahrungen. Ihr Team um sie besteht ausschließlich aus Frauen. In Ihrer "Entretempo Kitchen Gallery" in Berlin präsentiert sie Ausstellungen, veranstaltet Kochevents und plant Projekte wie die Food Art Week. Dort kann sie ihre Ideen verwirklichen, sie wird ernst genommen. Nicht wie in einem Restaurant in Frankfurt. Dort in der Küche - wieder nur unter Männern - wurde sie ausgelacht, beschimpft und verurteilt. "Sie haben mir meine Arbeit verdorben. Sie haben gesagt, ich sei dumm, hätte meine Zeugnisse gefälscht, könne nichts." Das war eine andere Art der Diskriminierung. An diesem Tag ging Tainá weinend nach Hause.
"Frauen sind in der Gastronomie nicht gleichberechtigt", sagt Tainá. Heute würde sie nicht mehr zurück in die Küche gehen. Auch weil sie einen Sohn hat. "Wer in der Gastronomie ein Kind bekommt, ist verloren. Einen guten Job in der Küche findet man nach der Babypause nicht mehr."