Manhattan, 57. Straße, das Restaurant „Nobu“, außerhalb Japans sicher zu den besten Adressen für Nippon-Küche gehörend, eine der teuersten ist es allemal. Trotzdem ist der Laden immer rappelvoll – das macht die Qualität. Dort Platz zu finden ist reines Glück. Oh, ein Zweiertisch? Wie schön! Vorfreudiges Geblätter in der Weinkarte ... Ja, da schau an: ein Nahe-Wein! Ein 2016er Riesling Kabinett aus Niederhausen von Jakob Schneider. Also bitte. Wer es aus Niederhausen nach Manhattan schafft, der darf Sinatra pfeifen. Willst du als Winzer zur Weltspitze gehören oder nicht? – „It’s up to you, New York, Neew Yoooork ...“
Manhattan liegt am Hudson, klar, nur wo liegt Niederhausen und wo die Nahe? Das erklärt am besten Stuart Pigott, ein Brite, der von früh bis spät das Hohelied der Nahe singt. An den Tag, der sein Leben änderte und ihn das seitdem singen lässt, erinnert er sich noch heute – es war der 26. April 1986: „Ich hatte einen Kunststudienplatz verpasst und musste ein Jahr überbrücken, jobbte in einer Weinbar in London und hatte von nichts eine Ahnung. Der Vater eines Kollegen war aber Weinhändler.“
Damit er lerne, nahm ihn der Händler mit auf eine Einkaufstour nach Deutschland. Und da geschah es: Der nahezu weinjungfräuliche Pigott senkte seine Nase in ein Glas „Kupfergrube“, einen silbrigen Weißwein vom Weingut Hermannsberg, wie Jakob Schneider auch dieser Betrieb aus Niederhausen. Er schnupperte und stutzte, witterte erneut, nahm über den zarten Glasrand etwas Wein in seinen Mund, zog schlürfend Luft ein, kaute den Wein, schlürfte noch einmal nach, sann ein wenig und dann schluckte er.
Wellen fruchtiger Aromen schossen durch seinen Gaumen- und Rachenraum, und neben einem Geschiller aus Süße, Säure und ein klein wenig Gerbstoff schmeckte Pigotts junge Zunge etwas, hm … Etwas, tja ... Hach, was war es denn…? Salzig war’s irgendwie, ja nun hatte er’s: Es war mineralisch.
Mineralisch ist das Zauberwort der gegenwärtigen Weißweinszene, alles ist bitte schön mineralisch. Auch die Hersteller von Gummibärchenweinen und solchen, die nach Eisdrops schmecken, suggerieren arglosen Kunden mit treuem Augenaufschlag die unleugbar spürbare Mineralität ihrer Plörre.
Für die Nahe allerdings, für deren Weine gilt dieses Prädikat auf fast natürliche Weise tatsächlich. Die Nahe nämlich hat, was andere Regionen nicht haben, nicht in dem Maße zumindest, sie hat eine geologische Beschaffenheit von … Ach, warten wir noch damit.
Pigott sagt heute: „Es war ein leckerer und rätselhafter Schock damals.“ Es war das Schlüsselerlebnis, das aus dem Kunststudenten Stuart den Weinstudenten Pigott machte, einen Semibesessenen, der es im Verlauf der folgenden drei Jahrzehnte zur Meisterschaft bei der Beurteilung deutschen Weins gebracht hat.
„Die Nahe bis heute mein liebstes deutsches Weinbaugebiet“ , sagt der Brite mit inzwischen deutschem Pass, „sie bietet so viele Köstlichkeiten wie eine Juwelierauslage Juwelen bietet.“
Ein geologisches Durcheinander
Die Nahe mag eine der weniger bekannten Weinregionen Deutschlands sein (nur Hessische Bergstraße, Saale/Unstrut sowie die Elbe untertreffen sie an Bekanntheit), sie ist gleichwohl die vielleicht spannendste. Wie Kinder in einem Kaleidoskop bunte Scherben durcheinanderrutschen sehen, erkennen Geologen im Tal der Nahe ein vor Jahrmillionen versteinertes, erdgeschichtliches und önologisch höchst folgenreiches Gepurzel.
Das Ausmaß, in dem die Böden und ihr Charakter dort von jetzt auf gleich wechseln, von einer Kleinstlage zur nächsten, oft im Verlauf von nur hundert Metern, ist ziemlich einzigartig. Genau das ist aber das Wesentliche bei Wein, dass er maßgeblich nach dem Boden schmeckt, auf dem und in dem er wächst. Irre Böden, irrer Wein. Franzosen sprechen hier von „terroir“ , nach dem lateinischen Wort „terra“ für Erde, für Boden.
Leider entspricht die Publikumskenntnis von der Natur der Nahe in etwa der Wassermenge, die das Flüsschen bei Bingen in den Rhein einfließen lässt – sie ist gering. Mehr ein Rinnsal denn ein Strom ist es, was da von den Primstaler Höhen im Saarland östlich zum Rhein hinabfließt. Primstaler Höhen klingt irgendwie kalt. Dabei ist das Nahetal aus der Luft betrachtet die westliche Verlängerung des sonnensatten Rheingaus – nur haben wir es an der Nahe nicht mit durchgehend bebautem Weinland zu tun, sondern (des Gepurzels halber) mit einer Perlenkette insularer Lagen von immer anderem Glanz. Die Lagen der Nahe sind eine Zier. Mehr noch, sie sind das Geschmeide am Hals des deutschen Weinbaus!
„Dass kaum einer sie kennt, liegt daran, dass es das Anbaugebiet Nahe bis 1971 rechtlich gar nicht gab“, sagt Johann Lafer, der in Guldental eine Kochschule hat und so sehr auf die Weine dieser Region steht, dass er sagt: „Früher war ich Burgunder-Fan, heute gar nicht mehr, heute trinke ich nur noch deutsche Weißweine und besonders die von der Nahe.“
„Der Lafer hat sich mehr als jeder andere um unseren Wein verdient gemacht“ , sagt Stefan Rumpf, der mit seiner Frau Cornelia in Münster-Sarmsheim die hübsche Weinstube Kruger-Rumpf betreibt (mit Zimmern, falls sich da jemand einen zwitschern möchte). Die Restauration ist namensgleich mit dem Weingut, das sie inzwischen ihren Söhnen Georg und Philipp übergeben haben. Kruger-Rumpf ist VDP-Mitglied und gehört somit zur Wein-Creme unter Deutschlands Winzern.
Bis zur Neufassung des Weingesetzes 1971 galt Nahe-Wein als Rhein-Wein, weil seine Fässer quer durch die Geschichte in Bingen auf das Schiff geladen wurden. Ähnlich wie Sprotten deswegen als Kieler gelten, weil sie in Kiel verschifft werden; dass die Fischchen in Wahrheit überwiegend aus Eckernförde kommen, weiß kein Barsch.
Der einzige Nachteil der Nahe-Weine ist, zumindest für Lafer, ihre geringe Menge: „Das sind da Weingärten von ganz kleiner Fläche, Insellagen, deren Ertrag es nur begrenzt zu haben gibt.“ Da der Lafer gern eher große Räder dreht, ist die Nahe für ihn zu klein: „Wenn ich für Singapur Airlines 8000 Flaschen einer Qualität suche, kann das an der Nahe niemand leisten. Das sind Manufakturen da! Es ist wunderschön, dass die sich gegenseitig immer höher pushen, ich wollte aber, es gäbe mehr davon.“ Schade für Lafer, schön für den Normalverbraucher – er ist es, der spannende Bodendiversität der Nahe genießen kann, weil sie ihm kein Großabnehmer wegtrinkt.
Von der Natürlichkeit der Nahe
„Ich habe auf fünf Kilometer Länge 52 Gesteinsformation, die meisten in Steil- und Hanglagen – und folglich ebenso viele charakterlich unterschiedliche Rieslinge“ , sagt Jakob Schneider, der Winzer von der „Nobu“-Weinkarte am Anfang. Ihm gehören 25 Hektar, zusätzlich verarbeitet er die Trauben von weiteren sieben, aber nur von solchen Böden, auf denen genau das geschieht, was Schneider will.
Karg seien die Böden um Niederhausen, fetter seien sie um Münster-Sarmsheim. „Wenn man sein Handwerk versteht, kann man die Vielfalt abbilden. In der Rosenheck etwa habe ich eine Lage nur aus magerem Schiefer“ , sagt Schneider und erklärt eine Art Selbstgespräch der Reben, die dort wachsen: „Die Wurzeln kommen an den weichen Felsen und merken, hm, da könnte es noch etwas weitergehen und gehen darum noch tiefer.“ Natürlich „finden die da nichts als noch mehr Schiefer“. Dafür konzentriere sich in ihnen nur noch mehr von dem Charakter dieses Steins.
„So etwas leisten nur Reben“, schwärmt Schneider. „Obwohl es 2018 kaum geregnet hat, haben zumindest die alten Stöcke Trauben erster Qualität gebildet. Deswegen schreien alle nach alten, tief wurzelnden Reben, weil die in der Tiefe noch Wasser finden, wenn an der Oberfläche nichts zu holen ist.“ Und danach schmecken die Weine, sie haben den Geschmack der Tiefe? „Genau“, sagt Schneider, der einzelne Lagen am Geschmack erkennen kann. Nicht alle, das gibt er zu, wohl aber „die Terroirs Niederhäuser Klamm, Norheimer Dellchen und Niederhäuser Rosenheck“ .
Mit dem Geländewagen nimmt er den Besucher mit an einen besonderen Flecken. „Schauen Sie mal“ , sagt er und zeigt über das stille Flusstal, „die Nahe ist fast durchgehend ein Naturschutzgebiet, nicht einmal motorisiert fahren darf man auf ihr. Eisvögel haben wir hier!“
Es gibt Wanderwege rings um Niederhausen und einen Weinlehrpfad, den schon der Vater gemeinsam mit anderen Winzern angelegt hat und der den Besuchern von Niederhausen den Weinanbau näherbringt. Vom Lemberg, dem höchsten Punkt am Nahetal, hat man einen herrlichen Blick auf die Hermannshöhle, in deren Nähe jene berühmte pigotte „Kupfergrube“ ist.
Das ruhige Wasser der Nahe genießen die Ruderer und Kanuten Bad Kreuznachs, des Ortes, der neben dem flussaufwärts gelegenen Idar-Oberstein das Versorgungszentrum an der Nahe bildet. In Bad Kreuznach war im Ersten Weltkrieg das „Große Hauptquartier“ des kaiserlichen Heeres. Dass von dort außerdem eine Bahnlinie ins strategisch wichtige Luxemburg führt, ist dem Ort im Zweiten Weltkrieg nicht bekommen.
Ein Juwel dagegen ist Meisenheim am Glan, auch „die Perle des Glantals“ genannt, ein Fachwerkstädtchen von allererster Güte, ein Wunder an Geschlossenheit und durchgängiger Gestaltung – mit hölzernen Türen und Fenstern, mit farblicher Abstimmung des aberwitzig geformten Hausgebälks, mit spitzgiebeligen Dächern und Türmchen. Hätte Walt Disney in den 1930er Jahren nicht Füssen besucht, sondern Meisenheim am Glan (der Glan fließt in die Nahe) und das damals noch unberührte Bad Kreuznach, Disneyland sähe heute nach der Nahe aus und nicht nach Bayern.
Aber es ist, wie es ist, und Dinge sind geschehen, die besser nicht geschehen wären. Was hilft’s? Man macht aus dem das Beste, was einem die Eltern hinterlassen haben. So wie Falk Albrecht von Plettenberg es tut, Spross eines Hauses, das seit Hunderten von Jahren Wein produziert und dabei zunächst Höhen, dann aber auch mehr und mehr Tiefen gesehen hat.
Zugleich ein Haus, das sich nun aber erneut wieder höher und höher schraubt. Endlich einmal in einer langen Reihe von Reichsgrafen ist es nämlich so, dass der junge Falk tatsächlich Weinbau studiert hat und nicht Landwirtschaft oder Herrenreiterei. Er hat die Aufgabe angepackt, aus einem Lieferanten süßer Großtankmumpe für das Weinhaus Pieroth wieder einen Betrieb zu machen, der einzelne und strahlende Lagenweine heraus arbeitet.
Unterkünfte, Weingüter, Lokale und mehr an der Nahe
Übernachten
Gut Hermannsberg: Das ehemalige Gutsdirektorenhaus am Fluss hat schöne, moderne Zimmer. DZ/F ab 120 Euro, Niederhausen, Ehemalige Weinbaudomäne, Tel. 067/589 25 00, www.guthermannsberg.de
Linden One: In einem umgebauten Winzergehöft aus dem 18. Jh. bietet Marina Busch vollausgestattete Apartments ab 84 Euro. Windesheim, Lindenstraße 1, Tel. 06707/91 59 40, www.lindenone.de
Weingut Kruger-Rumpf: Hier kann man herrlich essen, trinken und dann sein müdes Haupt am selben Ort betten. DZ ab 70 Euro, Münster-Sarmsheim, Rheinstraße 47, Tel. 06721/438 59, www.kruger-rumpf.de
Essen und trinken
Weingut Jakob Schneider: Niederhausen, Winzerstr. 15, Tel. 06758/935 33, www.schneider-wein.com
Weingut Reichsgraf von Plettenberg: Bad Kreuznach, Im Wingert 2, Tel. 0671/ 22 51, www.weingutplettenberg.de
Im Kittchen: Ein Ehepaar führt das holzgetäfelte Restaurant – er kocht, sie bedient. Gute Speisen ohne Schnickschnack, tolle Weine. Bad Kreuznach, Alte Poststraße 2, Tel. 0671/920 08 11
Zur Blume: In dem Hotel- Restaurant wird anspruchsvolle, aber nicht überkandidelte Küche serviert. Meisenheim, Obergasse 33, Tel. 06753/123 77 80, www.meisenheimer-hof.de
Sankt Hubertus: Wie aus der Zeit gefallen wirkt dieses Lokal unterhalb der Ruine der Dalburg. Einheimische sitzen beim Wein unter Hirschgeweihen, Waltraud Jörg kocht ehrliche Speisen. Dalberg, Gräfenbachstraße 50, Tel. 06706/261
Kupferkanne: In dem Lokal mit frischer, regionaler Küche speisen die Winzer, wenn sie ihre Gäste ausführen wollen. Bad Sobernheim, Berliner Straße 2, Tel. 06751/ 28 58, www.restaurantkupferkanne.de
Erleben
Weinwanderweg Niederhausen: Abwechslungsreiche Strecke mit etwa 50 Infotafeln, die Wissenswertes über Weinbau sowie Flora und Fauna im Weinberg vermitteln. www.weinlehrpfade.de
Crucenia Thermen: Gäste entspannen in zwei Innen-, einem Außenbecken. Nach 20 Minuten im mineralhaltigen Thermalwasser wechselt man in den Süßwasserpool. Bad Kreuznach, Kurhausstraße 26, Tel. 0671/99 14 26, www.crucenia-thermen.de
Bollants: Das voll ausgestattete private Spa lockt Besucher aus halb Deutschland an, sehr zur Freude aller Winzer. Bad Sobernheim, Felkestraße 100, Tel. 06751/ 933 90, www.bollants.de
Draisinentour: Auf hand- und pedalgetriebenen Eisenbahnplattformen geht es über 40 Kilometer durch das idyllische Pfälzer Bergland, mit 28 Haltpunkten und viel Gastronomie. www.draisinentour.de
Die gab es von jeher in Eigentum der Reichsgrafen, sie wurden nur nicht genutzt. „Plettenberg ist für mich das geheimste Spitzenweingut Deutschlands“, sagt der Weinhändler Gerd Rindchen, der sich des jungen Falk angenommen hat. „Das Weingut hat echt schöne Lagen, zehn Hektar davon bearbeitet Plettenberg für mehrere VDP-Weingüter. Das musst du erst mal können.“
Der junge Reichsgraf hat 2012 von seinem Vater um die 40 Hektar übernommen und will vor allem „mineralische und salzige Weine“ machen, solche, „von denen man durstig wird“, sagt er. „Der alte Kellermeister hier hat immer alle Rieslinge in einen großen Tank zusammengekippt. Ich baue aber jeden Weinberg einmal trocken und einmal süß aus und kann dann jede Lage für sich einzeln cuvetieren.“
Im jungen Plettenberg ist ein Winzer zu vermuten, dessen Entwicklung sich zu verfolgen lohnt und von dem zu sehen sein wird, ob auch seine Flaschen eines Tages auf dem Karten der Restaurants Manhattans stehen. Die Chancen stehen nicht so schlecht, seit weiland Joschka Fischer als deutscher Außenminister nicht mehr Großindustrielle mit zur UN-Vollversammlung nahm (wie seine Vorgänger das gern taten), sondern die Winzer des VDP. Seitdem holt sich der deutsche Wein seinen einst weltweit guten, aber später leider gründlich verhunzten Ruf zurück. Sie sind ganz vorn mit dabei, die Winzer von der Nahe.