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Babys mit Anenzephalie "Andere Eltern bemalen das Kinderzimmer, wir bemalen eben einen Sarg"

Zwei Schwangerschaften, zweimal die gleiche niederschmetternde Diagnose: Anenzephalie. Das bedeutet: Babys mit wenig entwickeltem Gehirn und ohne jede Chance, zu überleben. Und zweimal entscheiden sich Anna-Lisa und Michael, das Kind auszutragen.

Als die Hebamme ihr das tote Kind in den Arm legt, ist Anna-Lisa glücklich. Der schönste Moment in ihrem Leben. Seit Monaten hat sie sich darauf gefreut, ihn endlich zu sehen, zu streicheln, zu fühlen, ihn kennenzulernen: Wilhelm, 49 Zentimeter, 3150 Gramm, Geburtszeit 6.24 Uhr. Der, der sie in den letzten Monaten immer getreten hat. Den Anna-Lisa und ihr Mann Michael "Frosch" nannten, weil er in ihrem Bauch immer auf- und abgesprungen ist. Ihren Sohn.

Jetzt liegt Wilhelm regungslos in den Armen seiner Mutter im Kreißsaal, das Gesicht rotblau angelaufen, die geschlossenen Augen stehen hervor. Er trägt eine Mütze, die ihm die Hebamme gleich nach der Geburt über den Kopf gezogen hat, bevor seine Eltern ihn sehen konnten. Der obere Teil des Kopfes fehlt bei Wilhelm, der Schädel ist nicht geschlossen, sein Gehirn konnte sich im Mutterleib nicht entwickeln. Darum ist er kurz vor der Geburt in Anna-Lisas Bauch gestorben.

Wilhelm hat Anenzephalie, eine Entwicklungsstörung. Sie kommt bei etwa jedem 1000. Fötus vor. Heilbar ist sie nicht. Etwa ein Viertel der Babys mit Anenzephalie sterben schon vor oder während der Geburt. Kommen sie lebend zur Welt, überstehen sie nur wenige Stunden, ganz selten ein paar Tage. Nach der Diagnose entscheidet sich der Großteil der Eltern für eine Abtreibung. Fast jede vierte Mutter aber trägt das Kind aus. Obwohl die Eltern wissen, dass Kennenlernen und Abschiednehmen so nahe beieinanderliegen werden.

Auch Anna-Lisa und Michael, heute 28 und 32 Jahre alt, haben sich für diesen Weg entschieden. Sie sagen: "Wir bereuen keinen einzigen Tag." Aber auch: "Wir wissen nicht, ob wir es noch mal schaffen würden."

21. November 2013, siebte Schwangerschaftswoche. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, denkt Michael, als er auf dem Ultraschall das Herz schlagen sieht. Auch Anna-Lisa freut sich. Aber sie ist noch unsicher. Sie hat die zwölfte Woche im Kopf. Dann sei die größte Gefahr vorbei, heißt es. Vor einigen Monaten hatten Anna-Lisa und Michael auf dem Ultraschall nur eine leere Fruchtblase gesehen. Eine Fehlgeburt, sie hatten das Kind verloren.

Anna-Lisa wollte schon immer Kinder haben, mindestens sechs. Als sie sich in Michael verliebte, wusste sie, dass er der Vater sein sollte. Michael, der Bankkaufmann aus dem Nachbardorf im Rheinland. Den sie bei ihrem 18. Geburtstag kennengelernt hat und aus Trotz erst nicht haben wollte, weil ihre Mutter ihn sich als Schwiegersohn wünschte. Dessentwegen sie ein Jahr lang jedes Wochenende von Frankfurt ins Rheinland pendelte. Im September 2011 ließ sich Michael nach Frankfurt versetzen. Sie zogen zusammen, heirateten am 6. Juni 2012 standesamtlich, drei Tage später kirchlich, Anna-Lisa ganz in Weiß.

Zum großen Glück fehlte ihnen nur ein Kind.

10. Dezember 2013, elfte Schwangerschaftswoche. Auf der Überweisung der Frauenärztin steht nur: "Der Kopf ist nicht darstellbar." Was das bedeuten soll, wissen sie nicht. Sie spüren nur, dass etwas nicht in Ordnung ist. Und warum haben sie so schnell einen Termin für die Pränataldiagnostik bekommen? Sie suchen im Internet, finden alle möglichen Krankheiten.

"Da ist doch irgendwas Schlimmes!" – "Nein, da ist bestimmt nichts. Wieso sollte genau uns das passieren?" "Ja, du hast recht." Pause. "Und wenn was mit unserem Baby ist?" – "Da wird sicher alles gut gehen. Das ist bestimmt nur Vorsorge." – "Ja, das stimmt wahrscheinlich." Pause. "Aber wenn ..." Am nächsten Tag fahren sie zur Pränataldiagnostik.

Der 11. Dezember 2013, etwa 12 Uhr. Sie haben Angst. Sie setzen sich und warten, 15 Minuten vielleicht, bis sie aufgerufen werden. Die Ärztin macht einen 3-D-Ultraschall von Anna-Lisas Bauch. Ein Beamer wirft die Bilder an die Wand. Sie sehen die Bilder, doch sie wissen nicht, was sie bedeuten.

Nach einigen Minuten schaut die Ärztin sie an und sagt: "Ihr Kind hat Anenzephalie." – "Wie? Nein." – "Hat Ihnen Ihre Ärztin nichts gesagt?" – "Nein."  – "Wirklich nicht?" – "Nein!" – "Ihr Kind ist nicht lebensfähig."

Der Moment, in dem in einer Praxis in Frankfurt ein Traum zerbricht. Anna-Lisa weint, Michael versucht sie zu trösten und verzweifelt doch selbst.

Am Ende der Untersuchung sagt die Ärztin: "In drei Tagen können Sie sich den Schein abholen." Gemeint ist der Beratungsschein, den man braucht, um eine Schwangerschaft abbrechen zu können, ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Kein Wort darüber, dass es auch einen anderen Weg gibt. Anna-Lisa ist irritiert. Sie hat schon mal was über Anenzephalie gelesen. Dass man das Kind auch austragen kann. Dass es vielleicht sogar leben könnte, wenn auch nur kurz.

Anna-Lisa und Michael versuchen, stark zu sein. Sie wissen, dass sie eine Entscheidung treffen müssen, die sie ihr ganzes Leben lang verfolgen kann. Und doch hängt diese Entscheidung eigentlich nur an einer Frage: Wird ihr Kind während der Schwangerschaft oder der Geburt Schmerzen haben, wird es leiden? Am nächsten Tag wissen sie: Sie werden das Baby bekommen.

"Wir bereuen keinen einzigen Tag"

Fast sieben Monate sind es noch bis zum Geburtstermin. Sieben Monate, die sie mit ihrem Kind verbringen, in denen sie mit ihm sprechen können, etwas unternehmen, ihm die Welt zeigen. So stellen Anna-Lisa und Michael sich das vor. Eine Zeit, die sie mit schönen Momenten füllen wollen. Und mit schönen Erinnerungen. Dass sie überhaupt ein Baby erwarten, erfahren nur Anna-Lisas Mutter und einige gute Freunde. Wegen der Fehlgeburt, die sie zuvor hatten. Sie wollten die zwölfte Schwangerschaftswoche abwarten. Damit sie nicht wieder sagen müssen: "Es hat doch nicht geklappt."

Die beiden wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Es fehlt ihnen die Kraft, um allen selbst zu sagen, was geschehen ist. Dass sie ein Kind bekommen, das nicht leben kann. Sie fürchten sich davor, dass jemand ihre Entscheidung nicht verstehen könnte, und vor allem: vor dem Mitleid. Sie haben sich ja bewusst dafür entschieden. Für eine Zukunft, so sehen sie das. Da passt Mitleid nicht.

Anna-Lisas Mutter erzählt Tanten und Großeltern, was passiert ist und wie es weitergeht, und gibt ihnen einen Zettel, auf dem steht, was Anenzephalie bedeutet. Das hat Anna-Lisa im Internet gefunden. Michael erzählt es seinen Eltern am Telefon. Die hören zum ersten Mal von der Schwangerschaft. "Wir sind schwanger, aber ..." Niemand aus der Verwandtschaft stellt ihre Entscheidung infrage. Zumindest zeigt es keiner.

Etwa zwei Wochen nach der Diagnose steht fest: Es ist ein Junge. Die beiden lesen Bücher mit Namenslisten, suchen nach Bedeutungen. Zum Schluss bleiben Benjamin und Wilhelm übrig, der Glückliche und der Willensstarke. Ihr Kind wird viel Kraft brauchen in den nächsten Monaten, also nennen sie ihn Wilhelm.

7. Januar 2014, 15. Schwangerschaftswoche. Anna-Lisa geht nach drei Wochen Krankschreibung wieder ins Büro. Die Ablenkung tue ihr gut, denkt sie. Sie erzählt alles den Kollegen. Was soll schon passieren, bei Michael auf der Arbeit ist es doch auch gut gelaufen.

Doch die meisten verstehen nicht, warum Anna- Lisa das Kind bekommen will. Viele sagen nichts, einige meinen, dass sie das nicht könnten. Eine Kollegin, selbst schwanger, sagt: "Du bist blöd. Lass es doch wegmachen, dann kannst du ja ein neues machen." Es, wie eine Jeans oder so, die man sich eben neu kauft, denkt Anna-Lisa. Sie sagt bloß: "Sei froh, dass du nicht vor so einer Entscheidung stehst." Und geht.

Ihre Schwangerschaft wird bei der Arbeit zum Tabu. Keiner spricht darüber, Kollegen, die sie zuvor für gute Freunde gehalten hat, gehen ihr aus dem Weg. Nur ihr Chef unterstützt sie. Hat sie Kummer, hört er ihr zu. Fühlt sie sich schlecht, gibt er ihr frei.

Anna-Lisa und Michael können nicht verstehen, dass Menschen gesunde Kinder abtreiben. Sie verstehen aber, dass sich andere Paare in ihrer Situation nicht wie sie entscheiden. "Wir haben das aus Liebe zum Kind gemacht", hat ihnen ein Paar gesagt, das die Schwangerschaft abgebrochen hat. Anna-Lisa fühlte sich falsch verstanden. Sie antwortete: "Aber ich hab mich doch auch aus Liebe zu meinem Kind dafür entschieden."

15. Februar 2014, 21. Schwangerschaftswoche. Das erste Mal seit Jahren feiert Anna-Lisa ihren Geburtstag. Sie und Michael wollen, dass so viele Leute wie möglich Wilhelm kennenlernen. Wenn auch nur im Bauch. Andere Mütter machen das ja auch.

Sie will, dass ihre Schwangerschaft so normal wie möglich verläuft. Jeden Abend legt sie sich eine Spieluhr auf den Bauch, die "Schlaf, Kindlein, schlaf" spielt. Sie besucht einen Geburtsvorbereitungskurs. Den anderen Müttern erzählt sie nichts von der Krankheit ihres Kindes. Das Leben der beiden läuft so vor sich hin. In der Woche gehen sie arbeiten, am Wochenende unternehmen sie etwas. Die Tage vergehen fast wie von selbst. Sie sind glücklich.

28. April 2014, 32. Schwangerschaftswoche. Sie stehen vor dem Gorillagehege, als Anna-Lisa und Michael bewusst wird, was auf sie zukommt. Sie wollten nur das Gorillababy sehen, "es Wilhelm zeigen". Jetzt zieht Shira, die Gorilladame, ein schwarzes Knäuel über den lehmigen Boden. Ihr Sohn, Tandu, sechs Monate alt. Der Frankfurter Zoo hatte mit ihm geworben. Jetzt ist er tot. Und die Mutter will ihn nicht loslassen, schleppt ihn durchs Gehege, die Menschen schauen zu. Vier Tage lang.

Würde es ihr auch so gehen?, fragt sich Anna-Lisa. Würde sie loslassen können?

Von da an kommen Anna-Lisa und Michael fast jeden Tag in den Zoo. Immer der gleiche Weg, vorbei an Tigern, Fledermäusen, Pinguinen, ans andere Ende des Geländes. Um nach Shira zu sehen. Wie es ihr geht, ob sie noch traurig schaut wie am ersten Tag. Oft sitzen sie stundenlang da, immer auf dem gleichen Holzstamm vor der Glasscheibe, schauen den Gorillas zu und sprechen kaum ein Wort. Es hilft ihnen. Hier können sie loslassen. Bis die Durchsage sie aus ihrem Refugium reißt: "Wir schließen jetzt!" So geht das beinahe drei Monate. Vier Tage vor der Geburt kommen sie ein letztes Mal.

13. Juli 2014, 42. Schwangerschaftswoche. Stunden bevor Mario Götze Deutschland zum WM-Sieg schießt, malt Michael einen WM-Pokal auf Anna-Lisas Bauch. In Grün und Blau darunter: "Weltmeister – Wilhelm ist dabei!" Darüber eine Drei über der deutschen Flagge, eine Eins über der argentinischen. Eigentlich hat Fußball sie nie interessiert. Aber Wilhelm soll doch etwas davon haben. Vielleicht wäre er Fußballfan geworden.

Neun Tage vor dem Finale hätte eigentlich schon der Entbindungstermin sein sollen. Anna-Lisa und Michael wissen nicht, ob sie sich auf die Geburt freuen sollen. Sie haben oft darüber nachgedacht, wie es werden würde. Michael fragt sich: "Was, wenn ich mich nicht traue, meinen Sohn zu halten?" Anna- Lisa fragt sich: "Wird das Gefühl verblassen, wenn Wilhelm wieder weg ist?"

Er hebt das tote Baby hoch und denkt: "Jetzt bin ich Vater!"

Sieben Monate hatten Anna-Lisa und Michael Zeit, sich darauf vorzubereiten. Sie haben einen Fotografen organisiert, der die Momente nach der Geburt festhalten soll, haben Kuscheltiere gekauft, Kleidung in verschiedenen Größen, 42, 46, 50, sie wussten ja nicht, wann Wilhelm kommen und wie groß er sein würde. Sie haben einen Kindersarg besorgt, ihn schon Wochen vor der Geburt bemalt, mit Blumen, Tieren, einem Schmetterling, einem Schaf, einem Frosch, mit Schneemann und Weihnachtsbaum. Weihnachten ist doch vor allem ein Fest für Kinder, haben sie gedacht. Also auch für Wilhelm.

Anna-Lisa sagte zu Michael: "Andere Eltern bemalen das Kinderzimmer, wir bemalen eben einen Sarg."

23. Juli 2014, 43. Schwangerschaftswoche. Als die Hebamme sie fragt, ob sie ihren Sohn halten möchte, streckt Anna-Lisa ihre Arme nach Wilhelm aus und sagt: Nein. Sie zweifelt, aber nur für einen Augenblick, dann drückt sie ihn an sich. Sie ist erleichtert, dankbar, Michael ist stolz. Er hebt Wilhelm hoch, sieht ihn an und denkt sich: "Jetzt bin ich Vater!" Die Fotografin macht Fotos. Von Michael, wie er seine Frau küsst, von Wilhelm im Arm seiner Eltern. Von seinen Händen und den Füßen, die ihnen so sehr gefallen, dass sie sich zwei große Drucke davon ins Wohnzimmer hängen werden.

Anna-Lisa und Michael ziehen sich mit Wilhelm auf ihr Zimmer zurück, so haben sie das mit dem Krankenhauspersonal abgemacht. Sie schieben die Betten zusammen, Wilhelm liegt in der Mitte. Anna-Lisas Eltern besuchen sie, sogar ihr Vater, von dem sie es nie erwartet hätte, weil er emotionalen Situationen sonst aus dem Weg geht. Immer wieder lüften sie. Die Ärzte haben Bedenken wegen der Hitze im Zimmer. Dass sie den toten Körper angreifen könnte.

Am nächsten Morgen wird Wilhelm im Krankenzimmer gesegnet, sie zünden Kerzen an, eine Pfarrerin spricht. Anna-Lisas engste Verwandte kommen, die Brüder, die Großmutter, die Tante, die Eltern. Anna- Lisa und Michael wollten, dass sie Wilhelm sehen. Wie sollten sie sonst später über ihn reden können, wenn ihn niemand erlebt hat?

Von Michaels Familie kommt keiner. Sie ist überfordert mit der Situation. Bis heute kann er mit seiner Familie kaum darüber sprechen. Michael wäre froh, wenn es anders wäre, aber er macht keine Vorwürfe. "Viele Menschen können halt einfach nicht damit umgehen."

25. Juli 2014. Wenn jetzt niemand kommt, dann behalte ich ihn, denkt Anna-Lisa. Es ist Viertel nach sechs am Morgen. Die Krankenschwester sollte schon vor 15 Minuten da sein. Sie will Wilhelm mitnehmen. Eigentlich wollte sie das schon am Abend machen. Die beiden konnten sie aber umstimmen. Dass dieser Moment unvermeidbar würde, haben sie verdrängt. Sie haben sich doch gerade erst an ihn gewöhnt. Sie sind doch jetzt auch eine Familie, irgendwie.

In der Nacht haben sie kaum geschlafen. Es sind ja nur noch ein paar Stunden mit Wilhelm, sechs, fünf, vier. Um drei Uhr stehen sie auf. Damit sie ihn noch anziehen können, die Jeans, die schwarzen Chucks, sieben Zentimeter lang, den Pullover mit dem Aufnäher von AC/DC, weil Michael die so gern hört.

Um sechs Uhr sind sie bereit loszulassen – und niemand kommt. Die Minuten vergehen, und Anna-Lisa ist nicht mehr sicher, ob sie das kann: loslassen. Irgendwann holt Michael eine Schwester. Die hebt Wilhelm in einen kleinen Wagen. Sie legen seine Spieluhr und den Teddybären neben ihn.

Dann ist Wilhelm weg. Nach 48 Stunden. Nach mehr als neun Monaten. Anna-Lisa und Michael leiden. Aber die schönen Erinnerungen trösten sie, an die Geburt, die Segnung, auch an den Abschied. Die Krankenschwester bringt Wilhelm in den Kühlraum. Einige Stunden später fährt ihn der Bestatter ins Rheinland. Dort soll Wilhelm begraben werden, auf dem Friedhof, an dem Anna-Lisa schon als kleines Kind immer vorbeilief.

30. Juli 2014. Die vier Seile geben nach, der kleine Sarg fährt in die Erde. Auf dem Kreuz steht unter Wilhelms Namen nur ein Datum: 23. 7. 2014, links ein Stern, rechts ein Kreuz. Etwa 30 Menschen stehen vor dem Grab, Verwandte, Freunde, Nachbarn. Musik spielt, bloß nichts Trauriges. Auch die Todesanzeige in der Lokalzeitung musste bunt sein, ein Regenbogen, ein Schmetterling.

Für Anna-Lisa und Michael ist es ein Abschied. Und ein Neuanfang.

Einige Wochen nach Wilhelms Geburt hat Anna- Lisa das erste Mal wieder ein Kind im Arm, die Tochter ihrer besten Freundin, etwa acht Wochen alt. Anna-Lisa starrt auf den Kopf und denkt: "Ach, so muss das eigentlich aussehen." Sie denkt an den Moment im Kreißsaal, als sie kurz unter Wilhelms Mütze gelugt hat. Sie spürt keinen Neid. Sie fragt sich nur: "Wann werde ich das endlich erleben?"

"Wieso wir? Wieso schon wieder wir?"

Drei Monate später, im November 2014, fühlen sich Anna-Lisa und Michael wieder bereit. Auch weil sie Menschen haben, mit denen sie über die letzten Monate sprechen können. Anna-Lisa trifft andere Frauen, die ihr Kind verloren haben, die wissen, wovon sie spricht, auch von der Angst vor dem, was kommt. Die kriegt sie nie ganz los.

Dabei sagt ihr doch jeder: "Das passiert nur einmal." Die Hebamme, der Kinderarzt im Krankenhaus, ihre Frauenärztin. Sie nimmt jeden Tag fünf Milligramm Folsäure, zur Vorsorge. Das soll Fehlbildungen bei Embryos verhindern. Bei der ersten Schwangerschaft hatte sie weniger als ein Zehntel genommen.

Im Januar ist Anna-Lisa wieder schwanger.

12. März 2015, elfte Schwangerschaftswoche. "Jetzt zeige ich es dem Tod", denkt Anna-Lisa. Im Wartezimmer der Pränataldiagnostikerin setzt sie sich auf denselben Stuhl wie damals. Wieder warten, wieder 3-D-Ultraschall, wieder der bange Blick auf das Bild an der Wand.

Wieder: Ihr Kind hat Anenzephalie.

Dann: "Wo waren Sie denn beim letzten Abbruch?" – "Wie Abbruch?" – "Wo Sie beim letzten Mal die Abtreibung haben machen lassen?" – "In meinem Mutterpass steht doch, dass ich meinen Sohn ausgetragen habe!"

Anna-Lisa und Michael fühlen sich allein, hilflos, leer, viel schlimmer, als es bei Wilhelm war. "Wieso wir? Wieso schon wieder wir? Wie sollen wir das nur schaffen? Und schaffen wir es überhaupt?" Anna-Lisas Ärztin schreibt ihr ein Beschäftigungsverbot, Michael lässt sich für vier Wochen krankschreiben. Sie fahren an die Nordsee, um nachzudenken. Die Gewissheit, was richtig ist, ist verflogen. Sie schieben die Entscheidung auf. Bis sie nicht mehr können. Sie werden das Kind bekommen, ihre Tochter, sie soll Miley heißen, weil es aussieht, als würde man lächeln, wenn man den Namen ausspricht.

Anna-Lisa sagt heute: "Bei Wilhelm haben wir uns für ihn entschieden, bei Miley gegen den Abbruch."

Michael geht nach den vier Wochen wieder arbeiten. Er braucht einen Grund, aufzustehen. Anna-Lisa bleibt die komplette Schwangerschaft zu Hause. Auch bei Wilhelm gab es schwere Stunden, vor allem in den Tagen nach der Diagnose, aber die beiden unternahmen viel. Sie waren lebensfroh. Es gab immer den Blick nach vorn. Bei Miley sind sie oft lethargisch, mögen nicht vor die Tür. Sie gehen wieder in den Zoo, zum Gorillagehege, hoffen, dass es ihnen hilft – aber nichts passiert.

2. Oktober 2015, 41. Schwangerschaftswoche. Auch Miley trägt eine Mütze, als Anna-Lisa sie in den Arm nimmt. Auch Miley, 50 Zentimeter, 3950 Gramm, Geburtszeit 21 Uhr, kommt tot zur Welt. Und trotzdem wieder: Erleichterung, Dankbarkeit, Stolz. Die Fotografin macht Fotos, Anna-Lisa und Michael schieben die Betten zusammen, legen Miley in die Mitte. Am Morgen darauf die Segnung, einen Tag später holt die Krankenschwester Miley ab.

Eine Woche später tragen Michael und Anna-Lisas Vater wieder einen kleinen, bemalten Sarg über den Friedhof im Rheinland. Wieder weinen Menschen vor einem weißen Kreuz, ein Name, ein Datum, ein Stern, ein Kreuz. Wieder trauern Anna-Lisa und Michael um ihr Kind.

Es sind vor allem kleine Anekdoten, die es den beiden leichter machen, einen Sinn hinter alldem zu sehen. Eine geht so: Mario Götze schoss Deutschland zum Weltmeistertitel, Götze trug die Nummer 19 auf dem Trikot, Wilhelm kam 19 Tage nach dem errechneten Entbindungstermin zur Welt. Oder: Ein Frosch hüpft vor ihrem Auto über die Straße, Frosch war ja Wilhelms Spitzname. Sie kommen sich selbst etwas albern vor, wenn sie davon erzählen. Aber diese Geschichten helfen ihnen.

An manchen Tagen geht es Anna-Lisa und Michael gut, dann sehen sie eine Familie mit Kind, glücklich und gesund, und freuen sich für sie. Und dann gibt es Zeiten, in denen sie mit dem Schicksal hadern, in denen eine Frage alles überstrahlt: Wird alles gut? Nach Wilhelms Geburt war das noch keine Frage. Alles wird gut!

Der 1. September 2016, elfte Schwangerschaftswoche. Der Arzt versperrt Anna-Lisa den Blick auf das, was ihr größtes Glück sein soll und vor dem sie so viel Furcht hat. Auf das Bild auf dem Monitor. Sie versucht einen Blick zu erhaschen. Auch Michael kann auf dem krisseligen Bild kaum etwas erkennen. Vor allem: nichts Rundes.

"Uns interessiert nur, ob der Kopf zu ist!" – "Das sieht eigentlich alles gut aus." – "Sind Sie sich sicher?" – "Ich würde fast Wetten abschließen. Ich sehe keine Anzeichen für eine Anenzephalie."

Anna-Lisa und Michael freuen sich, einige Minuten. Aber die Angst geht nicht weg. "Wieso hat man dann keinen runden Kopf gesehen?" , fragen sie sich. Und: "Hat das bei Wilhelm und Miley nicht genauso ausgesehen?"

Am nächsten Tag gehen sie zur Frauenärztin. Wieder der bange Blick auf den Bildschirm, und sie sehen einen Kopf. Einen sehr kleinen Kopf zwar, aber er ist rund. Und geschlossen, das meinen sie zu erkennen. Die Ärztin sagt: "Das sieht sehr gut aus, alles völlig normal."

Wieder freuen sie sich, diesmal einige Tage, überlegen schon, wie sie das mit dem Kinderzimmer machen, wie sie es einrichten wollen. Doch das schlechte Gefühl will nicht verschwinden. Sie wollen nicht nachdenken über das Geschlecht, über Namen. Auch weil bald Mileys erster Geburtstag ist – und ihr erster Todestag.

An diesem Tag stehen sie wieder an den Gräbern, "an den Gräbern unserer beiden ersten Kinder". Sie haben sie geschmückt, mit Blumen und Luftballons. Und hoffen, dass sie nächstes Jahr zu dritt dort stehen.

Was passiert mit uns, wenn wir sterben?

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