Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sieht Deutschland fest im Griff einer neuen Corona-Infektionswelle und mahnt zu Vorsicht und weiteren Schutzvorkehrungen. "Die Pandemie ist alles andere als vorbei", sagte der CDU-Politiker am Mittwoch in Berlin. In einigen Regionen steige die Zahl der Intensivpatienten, teils würden schon Verlegungen in andere Krankenhäuser geplant. "Wir erleben vor allem eine Pandemie der Ungeimpften – und die ist massiv."
Die neuerliche Ausbreitung des Virus ließe sich außerdem bremsen, wenn sich mehr Menschen impfen lassen würden – allerdings gehe er davon aus, dass die "übergroße Zahl" der noch Ungeimpften nicht zu einer Impfung bereit sei, sagte Spahn.
Jens Spahn schlägt drei Punkte für Wellenbrecher vor
Der Minister schlug drei Punkte vor, um die Pandemie in Herbst und Winter einzudämmen. Über deren Umsetzung will er am Donnerstag und Freitag mit den Gesundheitsministern der Länder beraten.
Erster Punkt: Die Abstands- und Hygieneregeln müssten weiterhin "konsequent" eingehalten werden, ebenso die 3G- oder 2G-Regeln, sagte Spahn. Er rief die Behörden auf, die Einhaltung der Vorschriften etwa in Restaurants und anderen Einrichtungen strenger zu kontrollieren und Verstöße zu bestrafen. "Wir müssen das Kontrollieren kontrollieren", sagte Spahn. In Regionen mit besonders hohen Infektionswerten müssten 2G-Regeln durchgesetzt werden.

Zweiter Punkt: Für Pflegeheime schlug Spahn bundesweit strengere und einheitliche Testvorschriften vor. Personal und Besucher müssten dort auf das Coronavirus getestet werden, selbst dann, wenn sie geimpft seien. Er verwies auf den Fall eines Pflegeheims in Brandenburg, wo mehrere betagte Bewohner an dem Virus gestorben seien. "Ich möchte das Sterben nicht noch einmal erleben müssen wie im letzten Winter", sagte Spahn.
Dritter Punkt: Die Zahl der Auffrischungsimpfungen für bereits Geimpfte müsse rasch steigen. Seit August habe es nur zwei Millionen solcher Impfungen gegeben, "das reicht nicht", sagte Spahn. Daher sollte alle Länder alle Menschen ab 60 Jahren anschreiben und darauf hinweisen. "Die Auffrischimpfungen helfen, die vierte Welle zu brechen." Spahn bekräftigte seinen Vorschlag, dass die Länder den Bürgerinnen und Bürgern nach dem Schließen der meisten Impfzentren wieder Impfangebote machen – diese könnten auch dezentral und in kleineren Einrichtungen erfolgen. Auf eine Auffrischimpfung solle jeder, der will, sechs Monate nach Ende der ersten Impfserie Anspruch haben.
Mit Blick auf die Praxen sagte der Minister: "Zu viele Impfwillige finden aktuell keinen Arzt, der sie impft." Er wolle daher mit Ärztevertretern über Lösungen dafür sprechen.
Impfpflicht durch die Vordertür – in diesen Ländern ist der Anti-Corona-Pikser obligatorisch

Wieler: "Solidarität bleibt das Gebot der Stunde"
Spahn machte sich erneut auch für eine Bund-Länder-Spitzenrunde zum Corona-Vorgehen stark. Es sei wichtig, neben den Gesundheitsministern die Ministerpräsidenten ins Boot zu nehmen und Entscheidungen auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Dies sei jetzt in der Phase des Übergangs bis zum Start der neuen Bundesregierung sinnvoll, um eine einheitliche Kommunikation und damit Akzeptanz zu erreichen.
Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) warnt vor einer weiteren Verschärfung der Corona-Lage in Deutschland. "Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, wird diese vierte Welle wieder viel Leid bringen. Es werden viele Menschen schwer erkranken und sterben, und das Gesundheitswesen wird wieder stark belastet", sagte RKI-Chef Lothar Wieler. Die Welle entwickle sich leider genau wie befürchtet, da nicht genügend Menschen geimpft seien und Verhaltenshinweise zum Schutz vor Ansteckungen sowie die 2- und 3G-Regeln nicht mehr ausreichend umgesetzt würden. "Das sind erschreckende Zahlen", sagte Wieler mit Blick auf die erfassten Todesfälle in Deutschland.
Auch der Charité-Infektiologe Leif Erik Sander warnte in der Bundespressekonferenz vor einer Überlastung des Gesundheitssystems. Die Belastung auf Intensivstationen hänge mit der Zahl der Ungeimpften zusammen. "Wir sehen das auf unseren Stationen", sagte er. Es gäbe zudem weniger Intensivkapazitäten, da Pflegepersonal durch vorangegangene Wellen weggebrochen sei. Die Belastung für das Personal sei dadurch immens. Sander bezeichnete die Impfquote ebenfalls als "zu niedrig" und forderte eine Kampagne zur Booster-Impfung. Denn es gäbe einen abnehmenden Impf-Schutz nach ungefähr sechs Monaten. Besonders Ältere seien davon betroffen. Booster-Impfung könnten dem aber entgegenwirken und den Schutz erhöhen, sogar höher als nach der Zweitimpfung. "Die in Europa zugelassenen Stoffe sind extrem sicher." Sie schützten effektiv vor schweren Covid-Erkrankungen. Sorgen vor Langzeit-Nebenwirkungen seien unbegründet.

Spahn räumt Missverständnisse bei Ende der pandemischen Notlage ein
RKI-Chef Wieler rief zum Impfen und zum Einhalten der Regeln zu Abstand, Hygiene, Masken und Lüften auf. Die Impfung sei keine Wunderwaffe, machte er deutlich: Sie wirke nicht bei allen Geimpften gleich. "Außerdem kann der Impfschutz im Laufe der Zeit nachlassen – besonders bei Älteren, die ohnehin sehr gefährdet sind." Solidarität bleibe das Gebot der Stunde, betonte Wieler. "Wir alle wollen, dass dieser Winter der letzte Winter der Covid-19-Pandemie sein wird." Alle trügen die Verantwortung für die weitere Entwicklung der vierten Welle. Mit Impfungen und dem Einhalten der Maßnahmen könnten viele Menschenleben gerettet werden.
Spahn räumte in der Pressekonferenz zudem ein, dass er mit seinem Vorschlag, die vom Bundestag ausgerufene pandemische Notlage Ende des Monats auslaufen zu lassen, für Missverständnisse gesorgt haben könnte. "Das Auslaufen der pandemischen Lage ist von vielen als Zeichen missverstanden worden, die Pandemie ist vorbei", sagte er. "Wenn Äußerungen von mir so verstanden wurden, dann war ich nicht klar genug. Das sage ich selbstkritisch." Seine Botschaft sei: "Wir verlassen zwar einen rechtlichen Ausnahmezustand", aber die Pandemie sei noch nicht vorbei.