Ganz Deutschland blickt auf ein kleines Studentenstädtchen am Neckar: Tübingen. Während in anderen Teilen des Landes weiterhin strenger Lockdown angesagt ist, sitzen dort die Menschen wieder in den Cafés und im Theater, gehen shoppen. Das Modellprojekt der Stadt macht es möglich. Es läuft seit Mitte März, aber es läuft nicht makellos. Die Inzidenz steigt - und mit ihr die Kritik.
Tübingen will sich locker machen, will aufzeigen, dass Öffnungsschritte in der jetzigen Pandemiephase möglich sind. Das wichtigste Werkzeug dabei: eine große Testoffensive. An mehreren Standorten der Stadt werden kostenlose Coronatests durchgeführt, das Ergebnis bescheinigt. Nur wer "coronafrei" ist und das belegen kann, profitiert von den Lockerungen.
Inzidenz steigt
Derzeit werden wöchentlich etwa 30.000 Tests allein in der Modellstadt durchgeführt. Jeder dieser Tests koste dem Steuerzahler 15 Euro, sagte die Pandemiebeauftragte der Stadt, Lisa Federle, bei einer Online-Diskussionsveranstaltung der Bundesregierung. Dazu kommen etwa noch einmal so viele Tests in den Schulen, Kitas und Unternehmen. Nach den ersten knapp 50.000 Tests standen laut Federle 108 positive Testergebnisse auf der Haben-Seite. Viele davon entpuppten sich später aber als falsch-positiv, demnach hätten die niedrigen Außentemperaturen die Zuverlässigkeit der Tests beeinflusst. Inzwischen hat die Stadt nachjustiert.
Fest steht: in Tübingen steigt die Zahl der Neuinfektionen deutlich. Die Sieben-Tage-Inzidenz habe zuletzt bei 35 gelegen, wie eine Sprecherin der Stadt am Montag sagte. Sie bezog sich dabei auf die Zahl der vom Landratsamt auf Stadtebene ausgewiesenen Neuinfektionen für die Stadt Tübingen vom vergangenen Donnerstag. In der Woche zuvor hatte der Wert noch bei 23 gelegen. Die Inzidenz werde von der Stadt selbst berechnet. Die "Stuttgarter Zeitung" hatte am Sonntag sogar von einem Anstieg der Sieben-Tages-Inzidenz auf 66,7 berichtet, was nahezu eine Verdopplung des Wert binnen weniger Tage bedeuten würde. Der Landkreis lag zuletzt bei einem Wert von 104,1.
Für Boris Palmer aber hat der Anstieg nichts mit dem Modellprojekt zu tun. Zwar seien die Zahlen hochgegangen, nachdem Geschäfte, Restaurants und Kultureinrichtungen öffneten, allerdings sei der Anstieg in etwa so hoch wie dort, wo mit Schließungen gearbeitet werde, sagte er am Montagabend bei einer Online-Gesprächsrunde mit Wissenschaftlern in Tübingen.
Böblingen macht's schon länger
In Böblingen, nicht weit von Tübingen entfernt, läuft ebenfalls ein Versuch. Auch das Böblinger Modell sieht als Strategie "Testen, testen, testen" vor und das pro Person mindestens zweimal in der Woche, kostenlos, schnell. So soll die Inzidenz massiv gedrückt werden. Anfang Februar hat man losgelegt, zunächst mit fünf Teststellen, inzwischen sind es 42. Erfunden hat das Modell der Apotheker Björn Schittenhelm. "Der Landkreis Böblingen ist - Stand gestern - der Landkreis mit der niedrigsten Inzidenz in ganz Baden-Württemberg", sagte er dem "ZDF".
Durch die Tests würden Infizierte frühzeitig identifiziert, weitere Ansteckungen verhindert. 77,6 Neuansteckungen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen wurden dort zuletzt gezählt. Damit liegt der Landkreis in Baden-Württemberg an der Spitze, mithalten kann nur Pforzheim. Der Unterschied zu Tübingen: in Böblingen sind Gastro, Läden und Co weiterhin zu. Das möchte man bestenfalls ändern, durch die flächendeckenden Schnelltests soll auch dort ein Stück Freiheit zurückerobert, Öffnungen möglich werden. Schittenhelm ist sich sicher, dass die Testmoral und die Akzeptanz der Menschen steige, "wenn ich den Leuten etwas mehr Freiheiten gebe durch einen Test", sagte er im ARD-"Morgenmagazin".
Kann man in Böblingen von den Tübingern lernen? Wissenschaftler der Universität begleiten das laufende Modellprojekt. Sie achten auf die Positivrate, Mutationsfälle, aber auch Faktoren wie Homeoffice und familiäre Konstellation. Allerdings: Die Forscher haben ihre Arbeit mit Verzug aufgenommen, erst etwa eine Woche nachdem das Projekt angelaufen war. Zudem hatten die Wissenschaftler die Erhebung sehr schnell aus dem "Boden stampfen" müssen, die Bearbeitung sei "holprig" angelaufen, sagte selbst der Studienleiter Peter Kremsner. Ob sich aus der Erhebung relevante wissenschaftliche Erkenntnisse ableiten lassen werden, wird auch abhängig davon sein, wie viele Corona-Fälle während des Projekts gefunden werden. Ist die Zahl gering, schlägt sich das auch auf den Aussagewert nieder. Vor allem hinsichtlich der Möglichkeit das Tübinger Modell auf andere Städte zu übertragen. Zwischenergebnisse aus dem Projekt wurden bis dato keine veröffentlicht.
Öffnen oder schließen?
Im gesamten Land steigt die Zahl der Neuinfektionen derzeit exponentiell. Die Mutationen verbreiten sich rasant, auch dort, wo es keine Lockerungen gibt. Aufzuhalten ist die Welle nicht mehr, sind sich Experten einig. Sie fordern daher drastischere Eindämmungsmaßnahmen über Ostern, um die dritte Welle zumindest auszubremsen. "Wenn wir so weitermachen wie bisher - und wir sind ja immerhin noch in einem Lockdown -, werden wir eine Bewältigung der sich aufbauenden dritten Welle nicht schaffen", sagte der Epidemiologe Timo Ulrichs dem "RND" bereits in der vergangenen Woche. Und: "Notbremse und verstärkte Testaktivitäten alleine werden nicht ausreichen".
Er sprach sich unbedingt für weitere Einschränkungen von Kontakten und Mobilität aus. Auch flächendeckende Tests wie in Tübingen und Böblingen können bei der jetzigen Pandemielage einen Anstieg der Fallzahlen voraussichtlich nicht verhindern. Ob die Testungen die Welle vor Ort ausbremsen können und welchen Einfluss Öffnungen haben, muss beobachtet werden. Im Gespräch mit dem "ZDF" sagte auch Schittenhelm, dass die Modellprojekte zu höheren Zahlen führen werden, er glaube aber, der Punkt sei erreicht, "wo auch die Gerichte diese Einschränkungen nicht mehr tolerieren werden, weil wir eine Lösung haben. Die Lösung sieht vor: Testen". Böblingen startete wie Tübingen mit extrem niedrigen Inzidenzen ins Projekt. Trotz der umfassenden Teststrategie bewegt sich der Landkreis derzeit in Richtung 100er-Marke. Andere Städte und Landkreise haben diese Inzidenz längst gerissen.
In Tübingen feiert man die wiedergewonnene Fast- Freiheit. Es herrscht Euphorie. Die Stadt ist in Party-Stimmung, vor allem die jüngeren Bewohner nehmen die noch bestehenden Beschränkungen immer lockerer. Das wird zunehmend zum Problem. Am Sonntagabend sprach sich Palmer in einer Online-Gesprächsrunde der "Bild"-Zeitung für nächtliche Ausgangsbeschränkungen als weiteres Mittel zur Eindämmung der Corona-Pandemie aus. In Tübingen habe er das Problem, dass häufig nach 20 Uhr große Gruppen auf innerstädtischen Wiesen Partys feierten. Da gebe es keinen Abstand, sondern Alkohol, sagte der Grünen-Politiker. Bereits am vergangenen Samstag hatte er daraufhin ein Alkoholausschanksverbot erlassen, ein nächster denkbarer Schritt wäre die Ausgangsbeschränkung. "Ich hätte gar nichts dagegen zu sagen: Ab 20 Uhr ist wirklich Ruhe", sagte Palmer Tagsüber könne geordnet in der Außengastronomie gesessen oder mit Maske eingekauft werden. "Und nachts sind alle daheim - warum nicht."

Tübingen macht weiter
Für Trubel in der Stadt sorgte aber nicht nur die Jugend. Tübingen ist seit jeher Ziel für viele Besucher. Seit das Modellprojekt angelaufen ist, hat es einen regelrechten Run auf das Städtchen gegeben. Tübingen musste einen Riegel vorschieben, die Zahl der Auswärtigen begrenzen. 3000 Gäste wurden zugelassen, der Rest wurde abgewiesen. Palmer bat daraufhin alle, den Plan eines Städtebesuchs auf den Sommer zu verschieben. "Wir machen ja nicht den Versuch, wie viele Leute bekommen wir in eine klein Stadt rein, sondern wir wollen wissen, bekommen wir das Infektionsgeschehen unter Kontrolle, deswegen drosseln wir jetzt den Zugang", sagte er dem "SWR".
Obwohl sich die Pandemielage in Deutschland zuspitzt, planen mehrere Bundesländer Modellprojekte, die Lockerungen beinhalten. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schätzte das Risiko für solche Versuche als zu hoch ein, Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte höchstselbst in der ARD-Sendung "Anne Will" Kritik gegenüber Öffnungsschritten geübt und die Länder dazu aufgefordert, sich an die Absprachen zu halten. Geschehe das nicht, müsse notfalls der Bund eingreifen. In Tübingen fühlt man sich nicht angesprochen, dort hält man weiterhin an dem Projekt fest - trotz enormen Gegenwind und Morddrohungen gegen seine Person, wie Palmer berichtete. Der Versuch geht sogar in die Verlängerung und wird bis zum 18. April fortgesetzt.
Quellen: Stuttgarter Zeitung, SWR, NTV, ZDF, dpa