Es ist ein altes Vorurteil, dass Künstler und Künstlerinnen oft als besonders klug, reflektiert oder nachdenklich eingeschätzt werden. Doch jedes Mal ist man wieder erstaunt, dass Menschen, die preiswürdige künstlerische Werke hervorbringen, gleichzeitig bedenklichen Ideologien anhängen und dummes Zeug faseln. Als aktuelles Beispiel muss der Regisseur Ben Russell gelten, der sich ein Palästinensertuch umgewickelt hatte, um seine "Lobende Erwähnung" der Berlinale-Jury entgegenzunehmen, und auf der Bühne folgenden Satz zu sagen: "Natürlich stehen wir auch hier für das Leben und wir stehen gegen den Genozid und für einen Waffenstillstand in Solidarität mit all unseren Genossen."
Für das Leben also – das klingt erst einmal gut. Angesichts der Kostümierung muss man sich jedoch fragen, ob die 1300 israelischen und nicht-israelischen Leben, die der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 forderte, auch mitgemeint sind.
Wer Israel eines Genozids bezichtigt, verbreitet israelbezogenen Hass
"Gegen Genozid" zu sein, ist natürlich redlich und wichtig – gerade in Berlin. Die Deutschen haben gleich mehrere Genozide verübt, das Kaiserreich an den Herero und Nama, der Nazi-Staat an den europäischen Juden. Die Türken begingen Völkermord an den Armeniern, Stalins Terrorregime während des Holodomors an den Ukrainern, die Hutus in Ruanda an den Tutsi. Wer aktuell gegen einen Genozid protestieren möchte, hätte mit der Volksrepublik China einen guten Adressaten, der immer noch die Minderheit der Uiguren versklavt und planstabmäßig vernichtet. Doch all das ist bei Herrn Russell nicht gemeint, der Filmemacher hat sich wie viele Pro Palestine-Aktivisten den Begriff geschnappt und missbraucht ihn für seine antiisraelische Propaganda.
Nur um es vorwegzunehmen: Man darf und soll die israelische Regierung kritisieren, und wie der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster dem stern kürzlich gesagt hat, ist "jedes Opfer auf der palästinensischen Seite eines zu viel und ebenso schmerzlich wie jedes Opfer auf israelischer Seite". Doch wer den Terror der Hamas verschweigt, begeht Täter-Opfer-Umkehr, wer Israel eines Genozids bezichtigt, verbreitet israelbezogenen Hass.
Der Begriff Genozid ist genau definiert. Wer Völkermord begeht, will eine ethnische Gruppe, die sich durch Sprache, Religion und Tradition definiert, ausrotten. Das Ziel Israels und seiner militärischen Operation ist es, die vom Iran gesteuerten Islamisten der Hamas unschädlich zu machen, und seine 130 Geiseln zu befreien. Dass manche radikalen Mitglieder von Netanjahus Regierung darüber schwafeln, den Gazastreifen zu räumen, ist verwerflich und muss scharf kritisiert werden – wie übrigens in Israel selbst zahlreich geschehen. Aber: Wer "Palestine will be free, from the River to the sea" brüllt, sollte sich klarmachen, dass seine Forderung, ausschließlich durch Vertreibung und Genozid der Juden umzusetzen wäre. Man kann diesen Satz nicht anders meinen.
Die Berlinale war mit dem Versprechen gestartet, keine Bühne für Hass und Extremismus zu sein. Gegen Hass setzte sie "Respekt und Mut, setzen wir Freude und Verständigung, setzen wir Empathie und Humanität", hatte Kulturstaatsministerin Claudia Roth gesagt. Nachdem Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek zwei AfD-Politiker ausgeladen hatte, beschwor sie, die Berlinale habe "viel Platz für den Dialog der Menschen und der Kunst, aber Hass steht nicht auf unserer Gästeliste".
Es ist nur das jüngste Debakel in einer Reihe von vielen Entgleisungen
Dummerweise scheint sie sich bei den Wettbewerbsteilnehmern und in der eigenen Jury nicht so genau hingeschaut zu haben. Die "Jüdische Allgemeine" berichtet von anti-israelischen Sprechhören nach der Berlinale-Aufführung von "No Other Land". Ein Mann aus dem Publikum soll behauptet haben, Israel sei für die Massaker vom 7. Oktober selbst verantwortlich. Bei einer Podiumsdiskussion hätte das Filmemacher-Kollektiv um Basel Adra und Yuval Abraham Israel als "Apartheidstaat" bezeichnet. Schließlich überreichte ein Jury-Mitglied den palästinensisch-israelischen Künstlern den Dokumentarfilmpreis für ein Werk, das die "unmenschliche, ignorante Politik der israelischen Regierung" zeige, mit einem Zettel auf dem Rücken, auf dem ein Waffenstillstand gefordert wird.
Kann man ja alles machen, es herrscht Redefreiheit. Aber wie kommt es bloß, dass außer einer Erwähnung der Geschäftsführerin, kein einziger Künstler auf diesem Filmfest auf die Idee gekommen ist, einem Opfer der Hamas zu gedenken, oder gar die Terrororganisation, unter der schließlich besonders die palästinensische Bevölkerung zu leiden hat, auch bloß kritisch zu erwähnen? Und wen hat Ben Russell eigentlich mit "seinen Genossen" gemeint?

Nach den zahllosen Debakeln der jüngeren Zeit, der Verhöhnung von Holocaust-Opfern auf dem Echo 2018, den israelfeindlichen Auftritten auf der Ruhrtriennale unter Intendantin Stefanie Carp, den antisemitischen Werken auf der missratenen Documenta 2023, der Ernennung zweier verantwortlicher Ruangrupa-Aktivisten zu HFBK-Gastprofessoren, die Videos likten, in denen die Morde in Israel gefeiert wurden, muss man sich ernsthaft fragen, was mit dieser Kulturbranche nicht stimmt.
Am meisten verstörte am Ende das Berlinale-Publikum
Ganz offensichtlich hat es Methode, Positionen für die Leitung und Jurys wichtiger Festivals mit politisch einschlägigen Figuren zu besetzen. Vorstöße von Politikern wie Berlins Kultursenator Joe Chialo, Anhänger der antisemitischen BDS-Bewegung von öffentlichen Orten und Budgets auszuschließen, werden mit tausenden Protest-Unterschriften bekämpft und der "Gesinnungsschnüffelei" bezichtigt.
Nun also die Berlinale. Am meisten verstört am Ende das Publikum. Diese aufgebrezelten Überglücklichen, die es auf jene Gästeliste geschafft haben, auf der Hass angeblich keinen Platz finden sollte. Nach Russells Genozid-Vorwurf wie auch der Aufforderung von anderen Preisträgern, Deutschland möge keine Waffen mehr an Israel liefern, antwortet es jeweils mit frenetischem Applaus. Die einen hassen, die anderen feiern den Hass. Man weiß nicht, was man verwerflicher finden soll.