Herr Hoffmann, Sie sind deutscher Jude mit israelischen Wurzeln. Zusammen mit Ahmad Dakhnous, einem Palästinenser aus Syrien, haben Sie drei Tage lang in einem Tiny House mit Passanten über den Nahostkonflikt gesprochen. Was ist Ihr Fazit dieser Aktion?
Wir haben über den Krieg gesprochen. Es ist ja leider kein Konflikt mehr. Und unser Fazit ist, dass es wahnsinnig viel Gesprächsbedarf gibt. Viele Menschen sind unsicher und beklommen. Viele haben auch einfach Angst, über Israel zu sprechen. Beziehungsweise über den Krieg im Gazastreifen. Wir haben sehr viel Dankbarkeit erfahren, dass wir einen solchen Diskussionsraum öffnen und es den Menschen erlauben, in einer intimen Atmosphäre miteinander ins Gespräch zu kommen. Wir haben sogar Blumen geschenkt bekommen.
Gerade bei diesem schwierigen Thema kann man schnell das Gefühl bekommen: Wenn ich nur eine Sekunde lang nicht den gesamten geopolitischen Kontext im Auge behalte, rede ich kompletten Unsinn und bin auf immer diskreditiert. Was kann man dagegen tun?
Man kann nicht-öffentliche Räume anbieten, wie wir es mit unserem Tiny House getan haben. Räume, in denen man auch Fehlbarkeiten zulässt und sagt: "Hier hat jetzt erst einmal alles Platz, was du sagen willst, ohne dass es skandalisiert oder unterdrückt wird."
Wann würden Sie eine Diskussion abbrechen?
No Gos sind Gewaltverherrlichung und das Abstreiten von Schmerz, Leid und Trauma des jeweils Anderen. Denn die Basis dieses Tiny-House-Experiments ist ja gerade, über Gefühle zu sprechen. Und darüber, was dieser Krieg mit einem macht.
Demokratie heißt: Argumente aushalten und dagegen argumentieren.
Was war das Schwierigste in diesen drei Tagen?
Die größte Herausforderung in solchen Dialogen ist sicher das Zuhören. Denn man muss sich ja aufeinander einlassen und versuchen zu verstehen, aus welcher Perspektive die jeweilige Person argumentiert. Es ist ja kompliziert, in einer Debatte andere Meinungen auszuhalten. Andere Meinungen, die auf einer freiheitlich demokratischen Grundbasis fußen. Man muss diese anderen Argumente aushalten und gegebenenfalls dagegen argumentieren. Das ist es schließlich, was unsere Demokratie ausmacht.
Der Krieg in Gaza ist im Moment sicher das schwierigste politische Thema überhaupt. Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit Gespräche drüber gelingen können?
Ich gehe ja auch mit der palästinensischen Aktivistin Jouanna Hassoun in Schulklassen und biete dort "Trialoge" über Israel und Palästina an. Und sowohl in den Schulklassen als auch in dem Tiny-House auf dem Potsdamer Platz setzen wir einen so genannten "Braver Space" als Rahmen.
Was ist das?
Der "Braver Space" setzt sich vom "Safer Space" ab. Ich sage einmal zugespitzt, dass der "Safer Space" ein Raum ist, in dem homogene Gruppen sitzen. Also zum Beispiel nur Frauen mit Hijab, die ihre Erfahrung – vielleicht auch Rassismus-Erfahrung – teilen. Und niemand ist anwesend, der das relativieren könnte. Aber eine Schulklasse und ein Tiny-House können niemals solche "Safe Spaces" sein. Deswegen haben wir einen "Braver Space" definiert. Also einen Raum, der dazu ermuntert, mutig und konstruktiv über ein herausforderndes und auch kontroverses Thema zu sprechen. Wir ermuntern dazu, den Argumenten der Anderen zuzuhören und den Gefühlen Platz zu geben, die in diesen Räumen entstehen.
Wir versuchen einzuordnen. Ohne unser Gegenüber bloßzustellen.
Und was machen Sie, wenn jemand in einem solchen "Braver Space" mal ordentlich daneben langt?
Das passiert regelmäßig. Aber dann wird diese Person zum Beispiel nicht gleich als Antisemit oder Rassist beschimpft. Sondern wir gehen in unserer pädagogischen Arbeit fragend vor. Wir versuchen herauszufinden, woher die jeweiligen Einstellungen kommen. Woher wurden die Informationen beschafft? Warum glaubt diese Person das? Ahmad und ich versuchen auch, unsere eigenen Gefühle zu teilen. So versuchen wir gemeinsam, die Dinge einzuordnen. Aber ohne unser Gegenüber bloßzustellen vor anderen.
Wie oft passiert es Ihnen, dass Personen dann trotz aller Offenheit unzugänglich bleiben und in ihren Urteilen gefangen?
In den Schulklassen sind das vielleicht ein bis zwei Personen. Aber oft melden sich ja gerade diese Personen gar nicht zu Wort. Es gibt ja auch viele Menschen, die sich gar nicht trauen, zu diesem Thema zu sprechen. Weil sie vielleicht auch gar nicht sprechfähig sind. Wir haben jetzt schon öfter erlebt, dass wir auf sehr geschlossene Weltbilder trafen. In der Kommunikationswissenschaft gibt es ja das Sender- und Empfängermodell. Und in solchen Fällen wird dann nur noch gesendet und nicht mehr empfangen.
Was hatten die Menschen auf dem Herzen, die in Ihr Tiny House kamen?
Die meisten kamen mit Positionierungsfragen. Sie sagten: "Ich finde keine richtige Position. Wie gehe ich da vor?" Gerade Menschen, die christlich-deutsch sozialisiert wurden und Schuldgefühle gegenüber Israel haben und jetzt mit den Bildern aus Gaza konfrontiert sind, mit dieser wüsten Zerstörung und dem Leiden der Menschen vor Ort, fragen sich: "Wie kann ich das in meine bisherige Haltung der uneingeschränkten Solidarität mit Israel einpassen?" Ich muss betonen, dass wir in den drei Tagen niemanden in dem Tiny House hatten, der Israel das Existenzrecht abgesprochen hatte. Aber viele waren in einem moralischen Zwiespalt.
Kam es zu offenen Konflikten oder gar Gewalt im Tiny House?
Nein. Wir hatten zwar einen Sicherheitsmann vor der Tür, aber die Polizei war nicht da. Und wir hatten auch in keiner Sekunde das Gefühl, Angst haben zu müssen. Alles verlief friedlich.
Warum ist es gerade in Deutschland so schwer, über Israel und Palästina zu sprechen?
Wenn man über Israel und Palästina spricht, wird sehr viel mitverhandelt. Es gibt immer eine post-nationalsozialistische Dimension. Aber auch eine post-kolonialistische und post-migrantische Dimension. In diesem Spannungsverhältnis wird es immer schwerer, über Israel und Palästina zu sprechen. Weil man von allen Seiten gespiegelt bekommt, dass die eine oder andere Perspektive vielleicht unterrepräsentiert ist.
Können Sie dieses Dreiecksverhältnis von post-nationalsozialistischer, post-migrantischer und post-kolonialer Perspektive auf Nahost noch einmal beleuchten?
Die post-koloniale Perspektive bedeutet, dass Deutschland erst vor nicht allzu langer Zeit angefangen hat, sich mit seiner eigenen Kolonialgeschichte zu beschäftigen. Und es ist noch lange nicht da, wo es sein könnte. In Berlin gibt es immer noch ein afrikanisches Viertel, in dem Straßenzüge oder Straßennamen nach Kolonialherrschern benannt sind.
Aber was hat der deutsche Kolonialismus mit Israel und Palästina zu tun?
Speziell der deutsche Kolonialismus nichts. Aber das Thema Kolonialismus im Allgemeinen schon. Die Idee, ein Land zu kolonisieren, hat natürlich schon etwas mit der Geschichte des Nahen Ostens zu tun. Denn man darf nicht vergessen, dass Israel in einer Region entstanden ist, in der die britische Kolonialmacht die Obhut hatte.
Und wie ist das verzahnt mit der post-migrantischen Dimension?
Wenn Ahmad Dakhnous und ich in Schulklassen gehen und dort über Israel und Palästina sprechen, sitzen dort immer mehr Menschen, die verschiedene Migrationsgeschichten mitbringen. Und die sind einfach nicht mehr verbunden mit der post-nationalsozialistischen Dimension des Landes. Das sind Menschen, für die der Holocaust gar keine direkte Bedeutung mehr hat. Die haben gar kein Gefühl von Schuld mehr, das all jene Menschen noch mitbringen, die deutsch-christlich sozialisiert sind. So hängen all diese drei Aspekte miteinander zusammen. Das macht auch die Vermittlung dieses Themas so komplex.
Sie selbst sind deutscher Jude und haben Familie in Israel. Ihr Co-Moderator Ahmad Dakhnous ist Palästinenser. Was war bislang Ihr heftigster Streit?
Wir hatten noch keinen heftigen Streit. Natürlich haben wir andere Perspektiven. Ahmad bringt als Palästinenser eine ganz andere Familiengeschichte mit als ich. Er lebte ja über 20 Jahre staatenlos und ist erst vor zwei Jahren in Deutschland eingebürgert worden. Ich habe einen völlig anderen Hintergrund als deutscher Jude, der mit deutschem Pass hier in Deutschland groß geworden ist.
Wozu führen diese beiden unterschiedlichen Perspektiven?
Wir haben zum Beispiel unterschiedliche Ansichten über die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung. Aber wir diskutieren respektvoll miteinander. Sonst könnten wir unsere Veranstaltungen und Aktionen auch gar nicht zusammen machen.
Vor allem Männer sind oft nicht bereit, ein aufrichtiges Gespräch zu führen.
Was würde Sie so wütend machen, dass Sie nicht mehr diskutieren möchten?
Ich glaube, da gibt es recht wenig, ehrlich gesagt. Obwohl: Es würde mich schon auch wütend machen, wenn ich merke, dass mein Gegenüber gar nicht offen ist oder gar nicht an einer Gegenposition interessiert ist. Und das gibt es ja gar nicht so selten. Vor allen Dingen bei Männern. Leider muss man sagen, dass die oft nicht bereit sind, sich zu öffnen und dann auch ein ehrliches, aufrichtiges Gespräch zu führen.
Sie setzen auf Dialog. Was machen Sie, wenn Sie einmal den Glauben ans Gespräch verlieren?
Ich bin von Grund auf optimistisch. Und ich glaube, dass in jedem Zweifel auch wieder ein Hoffnungsschimmer wohnt. Und zum Glück bin ich auch nicht allein bei unserer Mission, sondern habe Menschen an meiner Seite, die auch an die Kraft des Dialogs glauben. Im Gespräch miteinander können wir immer wieder auftanken.
Das Gegenmodell zu Dialog ist Boykott. Es gibt die Bewegung "Boycott, Divestment and Sanctions", die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will. Eine weitere Boykott-Bewegung ist "Strike Germany", die kritisiert, Deutschland sei zu israelfreundlich und diskriminiere Palästinenser. Wie beurteilen Sie diese Bewegungen?
Ich bin der Meinung, dass Boykottaufrufe nicht zielführend sind in diesem Konflikt. "Strike Germany" hat zum Boykott der Berlinale aufgerufen. Und einige Künstler sind diesem Aufruf gefolgt. Wenn man aber als Künstler ein internationales Filmfestival boykottiert, versperrt man sich den Weg, mit dem Medium Film auf künstlerische Weise wichtige Geschichten zu erzählen und wichtige Dialogräume zu öffnen. Ich würde mir wünschen, dass Künstler eher die Chance sehen für Dialog und demokratische Diskussionen.
Was haben Sie in den letzten drei Tagen gelernt?
Gerade hier auf der Berlinale habe ich gelernt, wie wichtig es ist, so emotionale Themen wie Israel und Palästina in kleinen Räumen zu diskutieren. Es gab ja auch Kritik an unserem Tiny House auf der Berlinale. So wurde gesagt: "Ah, wie süß, ihr habt da so ein Tiny House auf dem Potsdamer Platz gestellt! So ein kleiner Raum für so ein großes Thema! Wir hatten uns dafür einen viel größeren Raum gewünscht." Aber ich habe gelernt, dass es den Menschen schwerfällt, über ihre Gefühle zu diesem Thema zu sprechen und darüber zu sprechen, was gerade im Nahen Osten vor sich geht. Viele brauchen eine intimere Atmosphäre, um ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu artikulieren. Kein Panel dieser Welt hätte diese intimen Zwiegespräche abbilden können. Es ist wichtig, intime Räume zu schaffen, in denen Menschen sich frei äußern können.
Woran erkennen Sie, ob jemand einfach nur Israelkritiker ist oder schon Antisemit?
Das ist ein echtes Problem. Denn diese Grenze ist nicht wirklich definiert. Also muss man ganz genau hinhören. Und verstehen, was eine Person gerade über das israelische Volk im Allgemeinen sagt. Wenn es zum Beispiel heißt, Israel verfolge mit dem Krieg Rachegelüste – Auge um Auge, Zahn um Zahn – dann nimmt das Bezug auf alte Verschwörungstheorien. Aber wenn ich sehe, dass sich jemand genau mit der israelischen Regierung und der Region beschäftigt hat und die geostrategischen Interessen Israels sieht, gehe ich schon offener in die Diskussion.
Also läuft es darauf hinaus, Verschwörungstheorien erkennen zu können.
Trotzdem gibt es immer das Problem, dass eben nicht wirklich definiert ist, was Antisemitismus ist. Oft finden Menschen auch einfach nicht die richtigen Worte. Ohne dann sofort handfeste Antisemiten zu sein, die man denunzieren müsste. Der öffentliche Diskurs ist ja sehr verengt und fehlgeleitet. Ich würde mir insgesamt mehr Offenheit wünschen. Und von der Bevölkerung würde ich mir wünschen, dass sie sich mehr mit diesem Konflikt auseinandersetzt. Wir haben gemerkt, dass da sehr viel Unwissen ist und platte Stereotype reproduziert werden, die man in den sozialen Medien aufgeschnappt hat. Wir haben da auch eine große gesellschaftliche Herausforderung anzugehen.
Sie sind Experte auf dem Gebiet der brisanten politischen Diskussionen und glühender Verfechter des Dialogs. Würden Sie auch das Gespräch mit der AfD suchen? Oder würden Sie sagen: Mit Rechten rede ich nicht?
Ich stelle fest, dass die AfD gerade in Bezug auf Palästina und Israel eine falsche Solidarität mit Israel kundtut, um gegen Muslime zu hetzen. Damit hat diese Partei ihre Legitimation verloren. Ich glaube nicht, dass die AfD den Dialog sucht. Sie versucht einfach nur, uns Minoritäten gegeneinander aufzuhetzen. Juden gegen Muslime und andersherum.
Also würden Sie nicht mit der AfD reden?
Wenn ich in unserem Tiny House jemandem gegenübersitze, habe ich ihn ja nicht einer Gesinnungsprüfung unterzogen. Dort kann ich natürlich auch mit einem AfD-Anhänger diskutieren. Aber ich würde keine Einladung eines AfD-Politikers zur Diskussion annehmen.