Frau Grütters, bei der Berlinale kam es auf offener Bühne zu antiisraelischen Äußerungen. Was haben Sie gedacht, als Sie die Bilder sahen?
Ich war entsetzt. Bei allem Verständnis für Künstler, die oft genug übers Ziel hinausschießen – in der derzeitigen aufgeheizten Atmosphäre wäre ein Friedensappell ein eindrucksvolles Signal gewesen, gerade weil beide Seiten, palästinensische und israelische Filmer, vertreten waren. Dieser Auftritt war stattdessen eine gezielte Provokation. Da hätte es auf der Stelle eine Intervention geben müssen.
Und zwar wie?
Zum Beispiel indem man aufsteht und geht. Oder wenigstens nicht applaudiert. Es waren viele Personen im Saal, die dazu die Autorität hatten. Wo waren ihre Stimmen? Man muss ja nicht gleich auf die Bühne springen aus Protest. Aber auch noch zu klatschen? So droht die Kultur in Deutschland ihren Ruf als Ort des seriösen Dialogs zu verspielen.
Was fanden Sie besonders problematisch?
Als die Palästinenser-Tücher zu sehen waren, war klar, dass eine vorbereitete Aktion stattfinden sollte. Dass da niemand spontan reagiert hat, und sei es nur symbolisch, macht mich fassungslos. Es hätte durchaus Raum dafür gegeben zu zeigen, dass man diesen politisch blinden Aktivismus ablehnt.
Hier wurde eine deutsche Bühne für eine kalkulierte Grenzverletzung missbraucht. Jeder, der da vorne auftrat, wusste doch, dass Israelkritik bei uns aus gutem Grund eben nicht Mainstream ist.
In der internationalen Kulturszene ist Israelkritik Mainstream.
Das macht es aus deutscher Sicht doch nicht besser oder richtig! Aus palästinensischer Sicht sind manche Forderungen ja nachvollziehbar, und wer das Leid der dortigen Zivilbevölkerung nicht sieht, dem fehlt es schlicht an Empathie. Aber hier wurde eine deutsche Bühne für eine kalkulierte Grenzverletzung missbraucht. Jeder, der da vorne auftrat, wusste doch, dass Israelkritik hier aus gutem Grund eben nicht Mainstream ist. Auch die Solidarität der hiesigen Kreativszene wird so missbraucht. Das geht zu weit.
Wer trägt die Verantwortung für den Eklat?
Versagt haben die Kulturverantwortlichen, die Direktoren, die Institutionen, vor allem die Kulturpolitik. Es geht hier mittlerweile ums große Ganze. Auch viele Kreative leiden darunter, dass der Ruf der Kunstszene Schaden nimmt. Wir brauchen widerspenstige Künstler, damit unsere Demokratie nicht erlahmt. Blinder Aktivismus aber weckt zurecht Misstrauen, wenn es um die öffentliche Finanzierung geht. Für dieses Spannungsfeld und für die gesamtgesellschaftliche Balance ist die Kulturpolitik zuständig, die immer noch hilflos zuschaut.
Claudia Roth fällt da als Instanz aus?
Debatten über Antisemitismus in der Kunst ziehen sich wie ein roter Faden durch ihre Amtszeit. Die Documenta und vor allem der Umgang damit waren schlimm genug. Ein Kuratoren-Kollektiv aus einem islamischen Staat, das musste uns ja doppelt hellhörig machen. Das Problem kam jedenfalls nicht aus heiterem Himmel.
Manche stellen schon die öffentliche Finanzierung von Kunstprojekten in Frage, drängen auf eine Art Antisemitismus-TÜV.
Die auskömmliche Finanzierung der Kultur in Deutschland in Frage zu stellen, ist fatal, weil das am Ende die Freiheit der Kunst gefährdet. Damit schüttet man das Kind mit dem Bade aus. Wir müssen auch Widerspenstiges aushalten, das ist der eigentliche Wert der Kultur. Eine Demokratie lebt vom Widerspruch. Nur das rüttelt uns immer wieder wach. Aber es muss Leitplanken gegen antiisraelische Hetze und gegen Antisemitismus geben. Das fehlt ganz offensichtlich.

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Und das ist jetzt auch Roths Aufgabe?
Wenn noch ein letzter Rest an Vertrauen gerettet werden soll, müssen diese Leitplanken definiert werden, ohne die Freiheit der Kunst einzuschränken. Ich erlebe aber – fast überall in der Kulturpolitik – im Moment vor allem eine große Ratlosigkeit.