Gestern Nacht hinter dem Fridericianum. Das Zentrum der Documenta hat seit ein paar Stunden geschlossen. Doch das klassizistische Gebäude, vollendet 1779, dient bei dieser 15. Ausgabe der Documenta nicht nur als Museum. Es beherbergt zudem einen Kindergarten und mehrere Mitmachangebote für Besucher, und es funktioniert als Hotel. Ein ganzer Schwung der insgesamt mehr als 1500 Künstler übernachtet hier. Und so verwundert es wenig, dass im Hinterhof noch ein wenig gefeiert wird zum Abschluss des dritten Tages der Weltkunstschau. Mit warmem Wein und Bier, Geld bitte in die danebenstehende „Donation Box“, und Partyspielen wie Karaoke und Schraubendrehen. Die Stimmung ist ausgelassen.
Normalerweise wäre das keine Nachricht wert, doch ein paar Stunden vor dem freundlichen Fest wurde die Stimmung gegenüber der Documenta kurzfristig noch unfreundlicher als vorher. Schon im Vorfeld hatte es Bedenken gegeben wegen judenfeindlicher Tendenzen einiger der eingeladenen Kollektive. Die Kuratoren von „Ruangrupa“ stammen aus Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Welt, das generell die Politik der Israelis gegen die Palästinenser kritisiert und als Unterdrückung und Besatzertum brandmarkt. Die Lage, sie war also schon vor dem Start der Show brisant.
Dann wurde am Rande das weitläufigen Friedrichplatzes ein riesengroßes Wimmelbild ausgerollt. Das sofort zum beliebten Fotomotiv und Selfie-Hotspot wurde. Schon toll, diese Protestkunst gegen Militarismus und Gewaltherrscher. Auf der einen Seite marschieren finstere Soldaten und es stapeln sich die Totenköpfe, auf der anderen regiert der bunte Widerstand mit Akustikgitarre und gemeinsamer Suppenküche.
Antisemitische Schmähungen auf der Documenta
Doch dann schauten ein paar Kunst-Fans etwas genauer hin und entdeckten unter den Zeichnungen antisemitische Schmähungen. Einen Mossad-Agenten mit Schweinsnase, einen Juden mit Reißzähnen und SS-Runen auf dem Hut. Aus den Opfern des Holocaust wurden hier Täter gemacht, der Skandal war perfekt. Auch weil die Schöpfer des bereits 20 Jahre alten Banners ebenfalls aus Indonesien stammen, die Kuratoren also schlecht behaupten konnten, sie hätten davon nichts gewusst oder geahnt.
Und so nahm der Shitstorm in den klassischen und den sozialen Medien seinen Lauf. Gerade erst hatte der Bundesgerichtshof beschlossen, dass das Steinrelief einer „Judensau“ an der Stadtkirche von Wittenberg nicht mehr beleidigend sei, quasi zum historischen Erbe der Deutschen gehöre und ertragen werden müsse, nun wurde auf einem anderen Kunstwerk eine Judensau durch Hessen getrieben. Schweine gelten im jüdischen Glauben als unrein.
Das Ganze als Teil einer mit 42 Millionen Steuergeldern geförderten Ausstellung, die seit Mitte der 1950er Jahre eigentlich für Aufklärung stehen soll, für die Offenheit und Weltläufigkeit der Deutschen. Schaut her, wie fortschrittlich wir sind. Wir lassen diesmal sogar Aktivisten und Weltverbesserer aus dem globalen Süden zu Wort kommen. Mit Kunst, die eben nicht verwertbar ist nach kapitalistischen Maßstäben. Kunst, die das Versprechen auf eine bessere Welt, ein gerechteres Leben birgt. Fridays for Future im Museum sozusagen.
Mission: gescheitert? Nun, wenn sich die Aufregung gelegt hat, mittlerweile ermittelt sogar die Staatsanwaltschaft gegen die anwesenden 13 Künstler der Gruppe Taring Padi, wird man hoffentlich etwas klarer sehen – und mehr differenzieren.
Hätte der Eklat vermieden werden können durch bessere Betreuung im Vorfeld? Ja, wahrscheinlich. Waren die Organisatoren zu naiv in ihrem Glauben an die Freiheit der Kunst und dem Umgang mit Künstlern, die besondere, unserer Geschichte geschuldete Umstände nicht kümmern? Ganz sicher.
Andererseits: Wahrscheinlich müssen im 21. Jahrhundert solche wiederkehrenden Beleidigungen und Provokationen ertragen und kulturhistorisch eingeordnet werden. Was die üblen Schmähungen nicht besser macht und die Kunst dahinter nicht weniger plump und plakativ. Taring Padi hat sich denn auch rasch zu Wort gemeldet: „Wir entschuldigen uns für die in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen.“ Das Wimmelbild wurde inzwischen mit schwarzen Tüchern abgehängt und wirkt wie eine Trauerfigur. Noch am Dienstag soll es vollständig entfernt werden.
„Cheesecoin" – eine Mischung aus Käse und Bitcoin
Wer diesen Dialog auch auf der nun zu Unrecht unter Generalverdacht stehenden Documenta weiterhin suchen will, könnte vielerorts fündig werden. Auf der Karlsaue türmen sich beispielsweise Altkleider-Ballen, ein ebenfalls dort gezeigter Film räumt furios auf mit dem Glauben der Deutschen, dass sie mit ihren Kleiderspenden Gutes tun in Afrika. Im Naturkundemuseum präsentiert ein anderes Kollektiv die alternative Währung „Cheesecoin“, eine Mischung aus Käse und Bitcoin. Im Kulturzentrum WH22 erfährt man, wie im Gazastreifen selbst unter widrigen Umständen Malerei entsteht und in der Documenta-Halle wird verfolgten kubanischen Künstlern eine Bühne bereitet.
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Im ersten Stock des Museums für die Brüder Grimm, den Altmeistern des Geschichtensammelns und Weitergebens, hat sich derweil ein zierlicher Mann einen eigenen Erzählkosmos eingerichtet. Er konstruiert aus Wegwerfplastik und Haushaltsgegenständen charmante Objekte und Skulpturen und baut sie in kleine Theaterstücke ein. Dazu singt er mehr als er redet, über Konflikte und Traumata und wie man sie verarbeitet. Man möchte dem freundlichen Mann noch stundenlang zuhören und auf sich wirken lassen. Er stammt: aus Indonesien.