Eine weiße Villa, ein gepflegter Park mit großen alten Bäumen, Rhododendronbüsche mit üppigen weißen Blüten: Es ist eine Oase für die Sinne und die Seele, die sich einer der größten Intellektuellen und Humanisten Deutschlands, Roger Willemsen, vor der Stadtgrenze von Hamburg schuf. Einrichten ließ er die vielen Zimmer mit den glänzenden Holzböden und beeindruckenden Stuckdecken mit hohen Bücherregalen, mit Sofas und Teppichen und bunten Stühlen, Mitbringseln von Reisen, mit Bildern, die ihm zum Teil persönlich gewidmet sind und mit Keramik mit Spritzdekor, die er mit geradezu kindlicher Freude sammelte.
Ein wunderbarer Platz, doch Willemsen konnte dort nach seinem Einzug im Januar 2016 nur noch zwei Wochen leben. Er starb mit 60 Jahren - die Diagnose, Krebs, hatte er nur ein halbes Jahr vor seinem Tod erfahren.
Roger Willemsen galt als ein gastfreundlicher, herzlicher Mensch mit überschäumender Energie und großem Interesse, andere zu entdecken und zu fördern. Er hatte einen engen Kreis an Kultur verbundenen Freunden, der über lange Zeit gewachsen war. Eine aus diesem Kreis hatte für Willemsen das schöne Haus in Wentorf entdeckt. Andere hatten geholfen, es einzurichten. Eine leitete sein Büro. Sie begleiteten ihn während seiner Krankheit.
Ein Haus, in dem Kreativität gefördert wird
An einem Tag, nicht lange vor seinem Tod, waren alle acht zu Besuch bei ihm - und es entstand eine Idee, die Roger Willemsen sofort begeisterte: Ein Künstlerhaus solle nach seinem Tod aus der Villa werden! Ein Haus, in dem Kreativität gefördert wird, ob literarisch, bildnerisch, musikalisch - und, wie Willemsen begeistert einwarf: "Wir dürfen das politische Kabarett nicht vergessen!"
Jetzt wurde das Haus eröffnet. Etwa hundert Menschen kamen, die meisten selbst Kulturschaffende, die Willemsen persönlich gekannt hatten.
Sogar Herbert Grönemeyer war da, aus Berlin angereist, ohne Entourage, freundlich und zurückhaltend, seit vielen Jahren ein Freund, auch in der Zeit, als Grönemeyers erste Frau Anna an Krebs erkrankt war, hatten sie Kontakt. Willemsen führte nach ihrem Tod mit dem tief erschütterten Grönemeyer ein berührendes Interview für den stern.
Grönemeyer sagte in Wentorf: "Roger war für mich ein großes Vorbild. Ich hatte riesige Achtung vor ihm. Ein großer Freund." Kurz bevor Willemsen von seiner Erkrankung wusste, habe er an Grönemeyer einen überraschenden Brief geschrieben, so, als habe er bereits eine Ahnung gehabt: "Ich möchte, dass Du das weißt: Du liegst mir sehr am Herzen."
Auf seiner Facebook-Seite schrieb Grönemeyer nach Willemsens Tod: "Er war ein außergewöhnlicher, großer Mensch mit einer unbedingten Haltung. Neben ihm zu sitzen, machte glücklich. Ihm zuzuhören ging einher mit einem sofortigen Frieden, es war ein Bad in Klugheit, Verschmitztheit, alberner rheinischer Hochintelligenz, Bildung und Wärme. Ein Höchstmaß. Er stärkte, war ein trauter Zuhörer, fand für Dinge Worte, die einen verblüfften, er war der Freund, für den man das Leben liebt. Einer der ganz wenigen Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, die zum Vorbild taugen, an der man sich aufrichtet, wenn man eine Wand sucht und braucht."
Grönemeyer übernahm als eine Art Hommage die Nachfolge von Willemsen als Botschafter des "Afghanischen Frauenvereins" - Willemsen war oft nach Afghanistan gereist, hatte darüber geschrieben, hatte sich für Projekte, die vor allem Frauen halfen, eingesetzt.
"Roger-Willemsen-Stiftung" ist Brücke in die Zukunft
Die Kulturkritikerin Insa Wilke gehörte zu dem engen Kreis um Willemsen, sie ist Teil des Kuratoriums der Roger-Willemsen-Stiftung, die sein Freund Nikolaus Gelpke, der Chefredakteur des "Mare"-Verlages, gegründet hat. Seit 2016 ist Wilke Programmleiterin des Mannheimer Literaturfestes "lesen.hören" - sie übernahm von Willemsen die Nachfolge.
Als das Künstlerhaus eröffnet wurde, erzählte sie den Gästen: "Die Roger-Willemsen-Stiftung war nicht seine Idee, sondern entstand aus dem Wunsch von Freunden, sein Haus nicht auflösen zu müssen. Wirklichkeit konnte dieser Wunsch aber erst durch einen zweiten werden, nämlich Nikolaus Gelpkes Idee, ein Künstlerhaus zu gründen. Er war es, der Roger fragte, ob er einverstanden sei, wenn der 'Mare'-Verlag am Mühlenteich ein Künstlerhaus einrichten würde. Nikolaus Gelpke ist es also zu verdanken, dass wir heute hier sein können und dass in Roger Willemsens letzten Lebenstagen doch noch eine Brücke für ihn in die Zukunft geschlagen wurde. Dieses Künstlerhaus ist auch ein Geschenk für die Gesellschaft, wenn es gelingt, hier Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit zu geben zu arbeiten und das in aller Vielfalt fortzusetzen, was Roger Willemsens Werk auszeichnete: der kritische Blick, ein virtuoses Sprachvermögen, innere Freiheit und manchmal Übermut, die kluge Unterhaltung und das tiefe Verständnis für das Menschenmögliche, die Künste und den Mangel, aus dessen Empfinden große Kunst entsteht."
Seine Büroleiterin Julia Wittgens beschrieb Willemsen anschließend als äußerst unkonventionellen Arbeitgeber, immer geleitet von der Devise: "Qualität und Relevanz gehen vor Repräsentanz." Sie erzählte eine Geschichte, die ihr in besonders guter Erinnerung ist: Das Büroteam hatte sehr viel zu tun, Veranstaltungen und Reisen mussten organisiert werden. Willemsen kam am frühen Morgen hereingestürzt, er hatte eine junge Geigerin kennen gelernt, die vor der Entscheidung stand: Entweder auf eine Profikarriere als Musikerin zu setzen oder nur nebenberuflich zu musizieren. Willemsen fand erstere die bessere Idee, weil er die Frau für sehr begabt hielt, er fand aber auch, sie habe nicht das richtige Instrument, um ihr Talent zu entfalten. Er forderte sein Büro auf: "Kümmert Euch darum, das Geld locker zu machen, oder lasst uns gleich die richtige Geige besorgen!" Das Team protestierte, sie wussten nicht, wie sie die ganze Arbeit schaffen sollten, aber Willemsen war ungerührt: "Die bürokratischen Sachen können warten. Menschen unter die Arme zu greifen - das geht vor."
Innige Freundschaft zu Frank Chastenier
Viele haben ihn für diese Art zu denken und zu handeln geradezu verehrt. Der Jazzpianist Frank Chastenier gehörte dazu. Vor etwa 25 Jahren, als er noch nicht sehr bekannt war, entdeckte Willemsen ihn in einem Club. Er war so angetan, dass er Chastenier riet, eine CD zu machen. Als die fertig war, fragte Chastenier sehr vorsichtig an, ob Willemsen ihm nicht eine "liner note", ein Sätzchen, auf seine CD schreiben könne. Willemsen antwortete: Das mache er grundsätzlich nicht, aber Chastenier solle ihm die CD bitte schnellstens schicken. Als er sie gehört hatte, rief er an und sagte: "Ich muss Dir sogar unbedingt eine liner note schreiben." Entstanden ist eine inspirierende Freundschaft. Chastenier und Willemsen sahen sich oft, sie besuchten sich gegenseitig, traten gemeinsam auf - der eine las, der andere spielte.
Bei der Eröffnung des "Künstlerhauses" setzte sich Chastenier an den Flügel im Wohnzimmer und spielte Stücke, die Willemsen besonders liebte. Sie habe das Gefühl, sagte Insa Wilke, die sehr berührt wirkte, "Roger ist hier". Das zweite Stück am Flügel war eine Improvisation zu Herbert Grönemeyers Song "Mensch". Chastenier und Grönemeyer waren sich vorher nie begegnet. Sie kamen in Willemsens Musikzimmer ins Gespräch, über Mensch und Musik, sie tauschten die Adressen - ganz so, wie es Willemsen nicht besser hätte arrangieren können.
In Roger Willemsens Haus sollen bald Stipendiaten einziehen - bis zu zehn jedes Jahr. Zwei wurden bereits ausgesucht: Die Schriftsteller Claudia Rusch und Frank Schulz. Im Garten wird gerade noch eine Remise renoviert - für jene Künstler, die sich noch ein bisschen mehr zurückziehen wollen.
Freiheit und Rückzug waren Roger Willemsen wichtig. Insa Wilke sagte: "Wenige Menschen wissen, dass Roger Willemsen lange Phasen im Jahr sein Haus kaum verließ. Dann schrieb er, hörte Musik, las und schrieb und schrieb, meistens schrieb er. Morgens um fünf kamen die ersten Mails von ihm, nachts um eins die letzten, dazwischen dieses Glück des Schreibens, das Glück der Stille."
