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WDR-Intendant Tom Buhrow über die Aufarbeitung des #MeToo-Skandals beim WDR

Tom Buhrow über die Aufarbeitung des #MeToo-Skandals beim WDR
Tom Buhrow, soeben 60 geworden, sitzt seit 2013 auf dem Sessel des WDR-Intendanten
© Jens Boldt
Tom Buhrow, Intendant des größten ARD-Senders, über sexuelle Belästigung, Macht und Machtmissbrauch und die Schwierigkeiten, eine angstfreie Unternehmenskultur aufzubauen.
Von stern-Chefredakteur Christian Krug

Herr Buhrow, Sie haben einmal gesagt, der WDR sei ein Sender in Konzerngröße, habe aber eine Seele wie ein Familienbetrieb. Was ist mit dieser Familie geschehen in den letzten Monaten?

Die Seele des WDR ist aufgewühlt. Die Familie ist verunsichert. Das Selbstbild des WDR, von dieser Familienbetriebsseele, ist ein anderes als das, was wir lesen und erleben mussten. Gleichzeitig kam, wie bei Familienkonflikten üblich, alles auf einmal auf den Tisch. Jetzt haben wir die Chance zu einer Bereinigung.

Hätte man den WDR in den Sommermonaten als eine Person beschreiben wollen, hätte man vielleicht gesagt: Er ist ein Opa, der seiner Enkelin unter den Rock fasst.

Das ist natürlich ein Zerrbild. Dass es solche Fälle in einem Betrieb mit 4000 Mitarbeitern und Tausenden freien Mitarbeitern gibt, ist statistisch wahrscheinlich. Damit muss man leider rechnen. Mich haben aber nicht so sehr die zum Teil unzureichenden Schutzmaßnahmen sowie die Fälle von sexueller Belästigung geschockt – sondern die Frage: Wie ging man damit um? Es gab früher anscheinend ein ganz anderes Bewusstsein dafür. Heute ist dieses Bewusstsein glücklicherweise schon stark verändert. Der eigentliche Schock für mich war die Unzufriedenheit der Beschäftigten in bestimmten Bereichen, speziell dem Programmbereich. Bisher bin ich davon ausgegangen, dort herrschten die besten Arbeitsbedingungen. Ich habe schließlich jahrelang selbst dort gearbeitet.

Wann wurde Ihnen die Dimension der Zustände bewusst?

Ich kann keinen genauen Zeitpunkt sagen, aber ein Gespräch schildern. Eine Kollegin meldete sich und sagte: "Ich bin erst seit ein paar Jahren beim WDR. Ich liebe den WDR. Ich identifiziere mich mit ihm. Ich selbst habe keine sexuelle Belästigung oder Diskriminierung erlebt. Aber als jetzt diese Sachen hochkamen, da sagten Kolleginnen zu mir: Wusstest du das denn nicht? Das ist doch ein offenes Geheimnis! Und da frage ich jetzt mal die Geschäftsleitung: Wenn es ein offenes Geheimnis war, warum habt ihr nicht gehandelt?" Das war der Punkt, an dem mir klar war, da geht etwas weit über die konkreten Fälle hinaus. Wir haben es mit wesentlich mehr zu tun als mit dem Thema sexueller Belästigung – und der Frage, wie wir unsere Angestellten davor schützen.

Ex-WDR-Fernsehspielchef Gebhard Henke (l.) mit Buhrow bei dessen Amtsantritt 2013
Ex-WDR-Fernsehspielchef Gebhard Henke (l.) mit Buhrow bei dessen Amtsantritt 2013
© Sven Simon/ddp

Es geht offensichtlich um Macht und Machtmissbrauch. Nur ein Teil davon, das wird durch den Bericht der unabhängigen Kommissionsleiterin Monika Wulf-Mathies klar, ist sexueller Machtmissbrauch. Wie trennen Sie das?

Sexuelle Belästigung ist die tragischste Konsequenz von Machtmissbrauch. Um das zu verhindern, müssen wir Schutzmechanismen einführen oder vorhandene verbessern. Viel schwieriger zu greifen ist das generelle Thema Machtmissbrauch. Sind Vorgesetzte verantwortungsvoll, sind sie wertschätzend, oder sind sie verletzend? Ich möchte bessere, verantwortlichere und zugänglichere Führung. Aber ich möchte nicht keine Führung. Das wäre der falsche Schluss. Es ist wie in der Physik. Es gibt kein Vakuum. Dieser Ruf nach flachen Hierarchien ist ein Klischee. Große Einheiten brauchen klare Verantwortlichkeiten und auch Führung. Die Verantwortlichen haben aber auch Pflichten. Und diese Pflichten gilt es jetzt mit dem Personalrat zu entwickeln. Das heißt, die Führung muss noch transparenter, nachvollziehbarer und zugänglicher sein.

Öffentlich-rechtliche Anstalten sind schon jetzt sehr bürokratisch. Es klingt danach, als sei nun noch mehr Bürokratie im Anmarsch.

Wir dürfen nicht in formale Verbesserungen ausweichen. Dann führen wir nur noch eine weitere bürokratische Überwachungsstelle ein. Das ist nicht die Lösung. Die Lösung ist, dass sich die Kultur wirklich ändert. Dafür braucht man objektiv überprüfbare Verbesserungen. Man kann Kulturwandel nicht einfach von oben verordnen, auf einen Knopf drücken, und schon ist alles anders. Wir alle müssen den Kulturwandel leben – auch in der Führung. Wir stehen vor mutigen Entscheidungen.

Frau Wulf-Mathies hat gesagt, sie habe eigentlich nur die Spitze des Eisbergs beleuchten können. Was befindet sich denn darunter? Sie müssten es doch wissen.

Es wird noch dauern, das herauszufinden. Ich habe jedenfalls in den letzten Monaten eine nicht so schöne Seite meiner WDR-Familie kennengelernt. Ich habe kennengelernt, dass in Teilbereichen des WDR eine große Unzufriedenheit herrscht. Und zwar mit der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir miteinander arbeiten und wie Führung gelebt wird. Diese Unzufriedenheit habe ich so nicht erwartet. Man muss jetzt den Mut haben, sich dem zu stellen. Ich habe aber auch bei einigen eine fast schon destruktive Lust gespürt, sich über alles öffentlich auszulassen, was einem gerade stinkt. Einige haben im Windschatten der Aufklärung über sexuelle Übergriffe die günstige Gelegenheit genutzt, mal alles nach außen zu tragen und den WDR dabei schlecht zu machen.

Sonia Seymour Mikich, Ihre ehemalige Fernseh-Chefredakteurin, hat sich ähnlich geäußert. Sie sagte, sie sei enttäuscht darüber, dass man den Eindruck gewinnen konnte, der WDR sei ein Bordell.

Ich will das überhaupt nicht kleinreden. Jeder einzelne Fall sexueller Belästigung ist ein Fall zu viel.

Die Schriftstellerin Charlotte Roche warf Henke einen sexuellen Übergriff vor
Die Schriftstellerin Charlotte Roche warf Henke einen sexuellen Übergriff vor
© Angelika Warmuth/DPA

Sind die Verfehlungen ein Generationenproblem? Alte, mächtige Männer vergreifen sich an weiblichen Schutzbefohlenen? Oder ist es systemimmanent? Egal, wer die Macht hat, ob jung oder alt, er nutzt sie aus?

Ich glaube, überall da, wo unkontrolliert und ungeschützt Macht ausgeübt wird, in jedem Betrieb, in jeder Branche, ist die Gefahr groß, dass sie missbraucht wird. Ich glaube, dass das in 100 Jahren noch genauso sein wird. Ich glaube nicht, dass es sich durch Aufklärung und eine neue, moderne Generation erledigt. Ich glaube auch nicht, dass sich die Branchen groß unterscheiden, sondern es kommt darauf an, ob eine unkontrollierte Machtballung herrscht. Bei Filmproduzenten in Hollywood gibt es eben eine sehr große informelle Macht. Jemand, der so eine Firma leitet und ein großer, mächtiger Produzent ist, arbeitet im Prinzip nicht in formalen, überwachten Strukturen, sondern übt die Macht unkontrolliert aus. Ein Wall-Street-Hai unterliegt derselben Gefährdung. Aber auch in einer Blechdosenfabrik kann das vorkommen. Jedenfalls wenn der Fabrikchef im Prinzip die Tür zumachen und mit den Arbeitern und Arbeiterinnen fast machen kann, was er will.

Es geht Ihnen also vor allem um die Veränderung von Machtstrukturen?

Ja, die Macht muss sozusagen eingezäunt sein und kontrolliert werden. Das muss jeder Einzelne in einem Unternehmen verstehen und akzeptieren. Auch beim WDR.

Gibt es bei Ihnen im WDR noch ungeklärte Fälle, in denen sexueller Missbrauch vorgefallen ist?

Wir haben die allermeisten Fälle abgeschlossen. Jedenfalls so, dass wir Konsequenzen oder unsere Schlüsse daraus ziehen konnten. Bis hin zur Kündigung. Aber ich gehe davon aus, dass es nie einen kompletten Abschluss gibt, sonst brauchten wir keine Anlaufstelle und keine Clearingstelle. Ab jetzt ist alles in Ordnung, wäre das total falsche Signal. Ich gehe davon aus, dass es immer wieder Fälle von Machtmissbrauch gibt. Das Wichtige ist, dass jede Betroffene und jeder Betroffene weiß, dass ein Räderwerk unerbittlich in Gang gesetzt wird. Und dass es Anlaufstellen gibt, die ihrerseits verpflichtet sind, nachzuweisen, wie sie mit gemeldeten Fällen umgegangen sind.

Mit Ihrem ehemaligen Fernsehspielchef Gebhard Henke haben Sie einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen. Auch ihm wurde sexuelle Belästigung von Frauen vorgeworfen. Er hatte Ihnen in einem „Zeit“-Interview vorgeworfen, ihn zu den Vorwürfen überhaupt nicht angehört zu haben. Man hätte ihn vorverurteilt. War es richtig, ihn fristlos zu entlassen?

Ich kann in allen Fällen wirklich nach bestem Wissen und Gewissen sagen, dass wir jeden einzelnen Vorwurf sehr genau geprüft haben – unter dem kritischen Auge der Öffentlichkeit. Gebhard Henke ist der Einzige, den man mit Namen nennen kann, weil er ihn selbst öffentlich gemacht hat. Jeder Einzelne, der beschuldigt wurde, das gilt auch für Henke, ist angehört worden.

Til Schweiger auf dem roten Teppich

Ich nehme an, Sie glauben Charlotte Roche, die behauptet hat, Henke habe sie bei einer Veranstaltung an den Po gefasst? Er bestreitet das bis heute.

Ich gehe jetzt nicht auf einzelne Fälle ein. Wir haben aber auch in diesem Fall nicht aufgrund einer einzigen Aussage unsere Entscheidung getroffen. Sondern aufgrund von Gesprächen aus erster Hand mit Betroffenen. Glauben Sie mir, wir haben mit etlichen Frauen gesprochen. Erst danach haben wir uns für arbeitsrechtliche Schritte entschieden.

Haben Sie, im Nachhinein betrachtet, jemandem Unrecht getan?

Das glaube ich nicht. Nein.

Ihre Zuschauer könnten sagen: Kein Wunder, dass uns das Programm nicht mehr so gut gefällt. Die beschäftigen sich ja nur noch mit sich selbst und den Konflikten, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Sollten Sie nicht wieder an Ihre Zuschauer denken und gutes Programm machen?

Das ist das, was ich meinen Leuten nicht laut genug sagen kann. Ich unterschreibe die Frage und die Mahnung, die Sie da aussprechen, und setze noch ein Ausrufezeichen dahinter. Wir müssen! Ich bin davon überzeugt, dass man die beste Leistung bringt, wenn man angstfrei und wertgeschätzt arbeitet. Alle möchten schnell sichtbare, fühlbare, vor allem erlebbare Veränderungen. Eine Unternehmenskultur grundlegend zu verändern, das dauert aber. Nur ein Beispiel von vielen: Ich habe vor zwei Jahren angefangen, die Führungskräfte zu einer Führungskräfteklausur zusammenzutrommeln. Damit wir uns zwischen den Direktionen überhaupt mal austauschen können und Silos aufbrechen. Das gab es vorher gar nicht.

Wie viele Personen sind das?

Wenn man alle sogenannten Kästcheninhaber, das sind Leute mit einer formalen Leitungsfunktion, nimmt, sind das etwa 150.

Als Außenstehender wundert man sich, dass ein so großer Betrieb das noch nie gemacht hat.

Ja, das hat mich auch gewundert. Ich war sicher, dass es das in unregelmäßigen Abständen schon mal gegeben hatte. Aber mir ist berichtet worden, dass es diesen Austausch vorher nicht gab.

Ist es als Intendant Ihre Aufgabe zu sagen: Ich werde die Unternehmenskultur des WDR grundlegend ändern? Ist das Ihr Schlachtruf?

Das ist meine Aufgabe. Ja.

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