Gerade noch sitzt er in einer dieser geleckten Frankfurter Banker-Bars, bestellt ein vergoldetes Steak und erklärt seiner Kollegin Bea (Lisa Maria Potthoff), wie er seinen weiteren beruflichen Aufstieg geplant hat, wenn die beiden ihren nächsten Deal in Malmö "geclosed" haben. Doch plötzlich hat Andy (Charly Hübner) ein ganz anderes Problem: Ein anonymer Brief bezichtigt den Investmentbanker, vor 30 Jahren eine Frau vergewaltigt zu haben.
Der glatte Manager sieht seine Karriere in Gefahr und will die Vorwürfen rasch aus der Welt schaffen. So begibt er sich auf eine Reise, die ihn quer durch Deutschland führt und nebenbei eine kleine Geschichte von 30 Jahren Wiedervereinigung erzählt. Denn Andy gehört dem letzten Abitur-Jahrgang der DDR an. Die angebliche Vergewaltigung fand im Sommer 1990 statt, in der Nacht, als Deutschland Fußball-Weltmeister wurde. Es war der letzte gemeinsame Abend der Clique, ehe alle die Schulzeit hinter sich ließen und ihren eigenen Lebensweg beschritten.
Der lief für Andy überaus erfolgreich: Er verließ noch in derselben Nacht seine Heimat und machte in der Ferne Karriere. Bei seinen Freunden von damals hat er sich nie wieder gemeldet. Wurde er deshalb verleumdet? Der Bankenmanager setzt sich ins Auto und klappert seine alten Bekannten ab. Schnell merkt er, dass die letzten Jahrzehnte nicht für alle so gut verliefen wie für ihn.
Charly Hübner auf Deutschlandreise
Da ist Kathrin (Deborah Kaufmann), die nach Los Angeles gegangen ist, um Schauspielerin zu werden. Andy trifft sie in Salzgitter wieder, wo sie als Arzthelferin für einen Urologen arbeitet. Sein alter Freund Sven (Roman Knižka) ist dagegen fast so ein Arschloch geworden wie er selbst: Der Versicherungsmakler lebt in einem Neubau in Brandenburg - mit Rennrad, Grill und Rasensprenkler. Trotz seines eigenen Wohlstandes trägt er einen Hass auf die "Eliten" mit sich und glaubt an die große Corona-Verschwörung.
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In ihrer bildungsbürgerlichen Leipziger Altbauwohnung empfängt ihn die einstige Klassenbeste Annett (Christina Große), während ihr Mann gerade "einen Weißwein in Arbeit hat". Sie scheint es noch einigermaßen gut getroffen zu haben. Das lässt sich von Marina (Stefanie Stappenbeck) nicht sagen, die noch immer in ihrem Heimatort Grievow bei Schwerin lebt und ihre kranke Mutter pflegt. Jeder der alten Freunde gibt ein trauriges Bild ab, für fast niemanden haben sich die Träume erfüllt, mit denen sie damals nach der Wende aufgebrochen sind.
Nur für Andy, der hier den weltläufigen Macker gibt. Auf der Reise in die Vergangenheit findet er Stück für Stück heraus, was in jener Nacht im Sommer 1990 geschah, wer der Verfasser des anonymen Briefes ist - und dass es vielleicht nicht ganz die feine Art war, seinen Freundeskreis hinter sich zu lassen und alle Brücken abzubrechen.
"Für immer Sommer 90" ist ein ebenso launiges wie tiefgründiges Roadmovie mit fantastischer Besetzung, der sich durch zwei Dinge von dem typischen ARD-Produktionen abhebt. Zum einen ist es die Machart: Der während des Corona-Sommers 2020 entstandene Film ist größtenteils improvisiert. Die Schauspieler bekamen nur den Rahmen vorgegeben und waren in der Ausgestaltung der Szenen frei.

Zum anderen steht am Ende nicht diese bei öffentlich-rechtlichen Filmen so typische Läuterung des Helden. Stattdessen beherzigen die Macher (Buch und Regie: Jan Georg Schütte, Lars Jessen, Buch: Charly Hübner) das Credo von "Seinfeld"-Erfinder Larry David: "No hugging, no learning" - niemand wird umarmt, niemand wird geläutert. Hier wird das Leben nicht in eine 90-minütige Dramaturgie gestülpt, an deren Ende eine Moral stehen muss.
"Für immer Sommer 90" läuft am 6. Januar um 20.15 Uhr als 90-minütiger Spielfilm im Ersten. Es gibt den Stoff zudem als vierteilige Miniserie in der ARD-Mediathek.