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"Hart aber fair" Die billige Grillwurst ist vielleicht bald Geschichte – gut so!

Bei Hart aber fair über Tönnies ging es zur Sache: "Da haben Politik und Kartellamt einfach jahrelang geschlafen."
Bei "Hart aber fair" über Tönnies ging es zur Sache: "Da haben Politik und Kartellamt einfach jahrelang geschlafen."
© Dirk Borm / WDR
Erleben wir gerade den "Fukushima-Moment" der Fleischindustrie? In der letzten Sendung vor der Sommerpause diskutierte Frank Plasberg mit seinen Gästen über Tönnies und die Folgen. Tenor: Der Virusausbruch könnte das Ende einer Branche einläuten.
Von Mark Stöhr

Karl-Josef Laumann, der NRW-Gesundheitsminister, wollte schnell wieder los. Noch vor dem Abspann der Sendung sprang er von seinem Hocker auf und drängte zum Gehen. Die Krise ruft. Mehr als 1500 Infizierte im Tönnies-Betrieb in Rheda-Wiedenbrück, 7000 Menschen in Quarantäne. Und niemand weiß, wie stark sich das Virus in der Region schon ausgebreitet hat. Nächste Woche beginnen in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien. Auf Usedom wurde ein Paar aus Gütersloh bereits wieder nach Hause geschickt: aus Angst vor Ansteckung.

In der Debatte machte Laumann keinen Hehl aus seiner Wut auf die Verantwortlichen bei Tönnies. "Die wussten gar nicht, wer da jeden Tag ein und aus geht", sagte er mit Blick auf das Gezerre um die Namens- und Adresslisten der Arbeiter. 2017, erzählte er, wurde die Erfassung der Arbeitszeit gesetzlich vorgeschrieben, um zu kontrollieren, ob auch wirklich Mindestlohn gezahlt wird. Zurück kamen nur völlig unleserliche, handgeschriebene Zettel. "Der Tönnies kann Ihnen sagen, von welchem Schwein die Mettwurst ist – er kann aber keine digitale Zeiterfassung machen."

Zu Gast bei "Hart aber fair" waren:

Michael Bröcker(Journalist, Chefredakteur der Media Pioneer GmbH; ehem. Chefredakteur der Rheinischen Post)

Christian von Boetticher(stellv. Vorsitzender Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie)

Katrin Göring-Eckardt (B‘90/Grüne, Fraktionsvorsitzende)

Karl-Josef Laumann (CDU, NRW-Minister für Gesundheit, Arbeit und Soziales)

Karl Lauterbach (SPD Bundestagsabgeordneter, Gesundheitsökonom und Epidemiologe)

Peter Kossen (Pfarrer in Lengerich)

Nichts ist wirklich neu, was dieser Tage über die großen Fleischkonzerne ans Licht kommt. Ihr Markenzeichen ist seit vielen Jahren die Skrupellosigkeit und Verachtung von Mitarbeitern und Tieren. Dass jedoch jetzt eine Vielzahl von Menschen in Gefahr ist, schwer zu erkranken oder sogar zu sterben, und Tausende in engen Unterkünften festsitzen, von Hundertschaften der Polizei bewacht, ist eine neue Stufe der Eskalation. Der Journalist Michael Bröcker sprach von einem "Fukushima-Moment" der Branche. "Ich glaube", sagte er, "dass sich das System gerade für immer verändern wird."

"Man kann die Mafia nicht mit der Mafia bekämpfen."

Clemens Tönnies, Europas größter Schweinebaron, wird die Krise nach Einschätzung der Plasberg-Runde nicht an der Spitze seines Konzerns überleben. Gleich zweimal wurde sein denkwürdiger Satz von der Pressekonferenz am Sonntag eingespielt: "Wir werden diese Branche verändern." Peter Kossen, Pfarrer aus der Region, der das Schicksal der osteuropäischen Leiharbeiter bei Tönnies schon seit vielen Jahren begleitet, bemerkte dazu nur knapp: "Man kann die Mafia nicht mit der Mafia bekämpfen." Das gelte auch für die anderen Entscheider in der Branche, denen er ähnlich wenig Gutes zutraue.

Geleaktes Video aus Tönnies-Fleischfabrik

Widerspruch gab es von Christian von Boetticher vom Verband der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Er stellte im Verlauf der Diskussion einige ziemlich fragwürdige Thesen in den Raum. Dass die Arbeitssituation bei Tönnies der Auslöser für den Corona-Ausbruch sei, lautete eine davon, sei noch in keiner Weise bewiesen. Was Karl Lauterbach, den Chef- Epidemiologen der SPD, und Laumann gleichermaßen an die Decke brachte. Zur Situation der Arbeitsmigranten bemerkte der Lobbyist lapidar wie zynisch: "Die Leute kommen doch freiwillig hierher, um diesen Job zu machen."

Handelskonzerne und ihre Marktmacht

In einem Aspekt machte von Boetticher allerdings einen Punkt. Es gäbe in Deutschland nur noch fünf große Handelskonzerne, die zusammen über eine extreme Marktmacht verfügten. "Diese Unwucht in den Verhandlungen bekommen sie nicht durch die Änderung an ein paar Stellschrauben weg. Da haben Politik und Kartellamt einfach jahrelang geschlafen." Noch sind die Verbraucher Profiteure dieses unseligen Systems – sofern ihnen die Produktionsbedingungen egal sind. Doch das könnte sich jetzt ändern.

tis

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