Der Tag in Florida beginnt um ein Uhr mittags. Die Klimaanlage vibriert, pustet den Geruch der vergangenen Nacht durch das Zimmer, erzählt von verschwitzten Achseln und Wodka-Eistee. Fernando wacht als Erster auf. Er wackelt zum Bett von seinem Freund Beach, der nur in Unterhose auf dem Bauch schläft. Durch das Fenster der Airbnb-Wohnung dringt die Sonne. Auf dem Boden liegen Smirnoff-Flaschen und Plastikschalen mit angetrocknetem Sweet & Sour-Chicken. Fernando geht hinaus auf die Terrasse, wo man das Meer zwar nicht sehen, aber riechen kann. Er zündet sich eine Frühstückszigarette an. Der Kater drückt mit der Kraft tektonischer Platten.
Gestern Nacht im Club wurde Fernando vom Türsteher mit Kokain erwischt. Aber viel ärgerlicher ist, dass es nicht mit Nicole geklappt hat, denn die war wirklich süß. Ein Tag bleibt ihnen noch, bevor sie im Minivan zurück nach Ohio fahren. Fernando fotografiert den blauen Himmel und schreibt in seiner Snapchat-Story: "Today’s gonna be litttt."
Der Strandort Daytona Beach an der Ostküste von Florida ist so hässlich wie jeder andere Strandort, den der Massentourismus für sich entdeckt hat. 15-stöckige Beton-Hotels stehen direkt am Meer, im Erdgeschoss Läden, die Kühlschrankmagnete mit Bikinimotiven verkaufen. Davor ein langer Sandstrand mit Palmen, und wenn man das iPhone beim Fotografieren weit genug zur Meerseite ausrichtet, verschwinden die Beton-Hotels, und auf Instagram sieht es so aus, als wäre Daytona Beach das Paradies.
Der Spring Break darf für die College-Studenten kein normaler Urlaub sein. Mit einem Buch an den Strand legen geht nicht. Zwei Gläser Wein und dann früh schlafen geht nicht. Spring Break muss die Art von Erinnerungen produzieren, die einen durch die nächsten 50 Jahre Bürojob tragen. Eine Woche, die mehr Fortpflanzungsstress beinhaltet als Darwins "Die Entstehung der Arten".
16 Uhr. Am Strand
Fernando und sein Kumpel Beach liegen auf ihren Handtüchern und öffnen Budweiser-Light-Biere. Ihre mitgereisten Kommilitonen aus der Studentenverbindung werfen sich einen Football zu, aber Fernando und Beach können nicht so richtig werfen, also sitzen sie neben der Getränkebox. Vor ihnen schieben sich die Wellen des Atlantiks den Strand hinauf. Fernando plant den Abend: Gehen wir ins Razzle’s? Oder doch ins 509? 509 sei scheiße, sagt Beach. Fernando ist 21 Jahre alt, trägt ein Hawaiihemd und raucht Zigarren, weil das lässig aussieht. Als er drei war, brachte seine Mutter ihn illegal aus Mexiko in die USA. Nächsten Monat bekommt er die amerikanische Staatsbürgerschaft und einen Monat später seinen College-Abschluss. Dann will er einen Job im Marketing finden. Sein bester Freund Beach, so heißt er mit Nachnamen, ist 20 Jahre alt und will nach dem College-Abschluss Jura studieren. Fernando sagt, heute Abend werden sie hart feiern und nicht schlafen, bevor sie wieder in Ohio sind.
Vier Bikini-Mädchen laufen vorbei Richtung Meer. Sie knien sich in die Brandung, machen Selfies zu viert, dann Einzelporträts, dann springen sie hoch und versuchen, sich in der Luft mit angewinkelten Beinen zu fotografieren. Fernando sagt: "not bad". Beach sagt: "yeah". Fernando erzählt mir, dass da letzte Nacht ein Mädchen im Club gewesen sei, und sie habe nach Kokain gefragt. Eigentlich dealt er nicht mehr, nur am Anfang des Colleges mit Gras, um die Studiengebühren zu bezahlen. Aber er dachte, oh Mann, die ist süß, der tue ich den Gefallen. Also hat er auf der Clubtoilette für 60 Dollar ein Tütchen gekauft.
Als er es ihr geben wollte, stand ein Türsteher vor ihm. Er hatte ihn wohl beobachtet und zog ihm das Tütchen aus der Tasche. Fernando hatte Schiss, weil Ausländer, gerade Mexikaner, die beim Dealen erwischt werden, deportiert werden können. Erst Gefängnis und dann ins Flugzeug nach Mexiko, dabei sei sein Spanisch miserabel, sagt er. Aber der Türsteher, thank god, rief nicht die Polizei. Er hat das Tütchen selbst eingesteckt und ihn angebrüllt, dass er ihn nie wiedersehen möchte. Das Mädchen war danach auch weg. "She was hot", sagt Fernando.
Das Problem mit dem Sex beim Spring Break ist nicht, dass man ständig Sex haben möchte. Das Problem entsteht, wenn die Studenten nach einer Woche in ihre langweiligen College-Towns zurückkehren und ihre Freunde fragen: How was it? Dann sollte man erzählen können, dass da Karen aus South Carolina war. Und Karen aus South Carolina will erzählen können, dass da Logan aus Ohio war, dass er Basketball für sein College-Team spielt und sie ihn mit aufs Hotelzimmer genommen hat. Sie wird das erzählen, obwohl sie weiß, dass Logan angetrunken war, keinen hochbekommen hat und nur in der zweiten Mannschaft spielt. Dass sie ihm zwar einen geblasen hat, aber nicht gegen die Schwerkraft ankam. Und Karen danach dachte, dass etwas falsch mit ihr sei und Logan danach dachte, dass etwas falsch mit ihm sei. Trotzdem wird Logan zu Hause erzählen, dass Karen beim Blasen mindestens zweimal gekommen ist. Und Karen wird erzählen, dass es ziemlich kinky war mit Logan im Hotelzimmer beim Spring Break 2019. Und nach der Geschichte werden die Freunde, die gefragt haben, sich fürs nächste Jahr vornehmen, auch nach Florida zu fahren, um ihr Abenteuer mit Logan/Karen zu erleben.
Mythos aus der Zeit der Wet-T-Shirt-Contests
Es ist die Schuld von MTV, dass ein Strandurlaub in Florida solche Erwartungen erzeugt. In den Achtzigern filmte der Sender wunderschöne Menschen, die vor einer Bühne am Pool tanzten, während die Sonne sie umspielte. Auf der Bühne direkt am Strand ließ MTV die coolsten Bands der Galaxis auftreten: Beastie Boys, Spice Girls, Red Hot Chili Peppers, ’Nsync. Und der Homo americanus adolescens saß vor seinem Farbfernseher in Kalifornien oder Wyoming und wollte auch zu den schönen Menschen gehören, die vor der Bühne tanzten. Es war das Versprechen von Wet-T-Shirt-Contests, Sonnenbrand, Schaumpartys und whiskymutigen Menschen, die vom Hotelbalkon in den Pool springen. Man musste sich schon Wachs in die Ohren stecken, um nicht dem Gesang der MTV-Sirenen und ihrem Hedonismus-Marketing zu erliegen. Kommt nach Daytona Beach, the world’s most famous beach!
Die Kleinstadt Daytona Beach machte in diesen Jahren zwar Hunderte Millionen Dollar Umsatz, aber bei jeder guten Party kommt irgendwann der Absturz. Die wenigen Polizisten konnten die Studenten nicht mehr kontrollieren, whiskybenebelte Männer klatschten neben dem Pool auf die Terracotta-Fliesen, und der Bürgermeister von Daytona wollte nicht länger der Bürgermeister eines Partystrandes sein. Also verbot er Alkohol am Strand, warf MTV aus der Stadt und machte Daytona "family friendly". Der Spring Break zog weiter in andere Städte an der Küste, wo er dann nach ein paar profitablen Jahren wieder rausgeworfen wurde. Mittlerweile heißt es im Chat-Forum von Lonely Planet, man müsse schon nach Mexiko reisen, um eine wirklich wilde Spring- Break-Party zu erleben.
22.15 Uhr. Im Club
Wir stehen in der Schlange vor dem Nachtclub Razzle’s. Fernando trägt ein bananengelbes Hawaiihemd, Sonnenbrille und ein Cap, damit der Türsteher von gestern ihn nicht erkennt. Aber sonst ist eigentlich alles genauso wie immer, wenn man in einen Club geht. Man stellt sich an, nörgelt über die zu lange Schlange, hört die gedämpften Bässe. Dann schiebt man sich leicht verängstigt am Türsteher vorbei, bezahlt zehn Dollar Eintritt, und auch Fernando kommt rein, weil heute ein anderer Türsteher arbeitet. Der ganze Abend läuft auf diesen Moment zu: im Club anzukommen. Dafür hat man geduscht, gegelt, getrunken, das Vorglühen verlassen, als es gerade lustig wurde, und sobald man die Tanzfläche betritt, folgt die Ernüchterung. Ein Club, der aussieht wie jeder andere. Die Black Eyed Peas, die zehn Jahre später immer noch singen: "I gotta feeling that tonight’s gonna be a good night", obwohl fast alle im Club wissen, dass die Nacht ziemlich mittelmäßig ist und wird.
Man kann nicht einfach nach Hause gehen und sich schlafen legen. Auch kann man nicht einfach herumstehen und gelangweilt aussehen. Fernando wählt die Alkohol-Taktik und bestellt Bier. Beach wählt die Wander-Taktik. Er läuft durch den Club, tut so, als würde er einen Freund aus seiner Studentenverbindung suchen. Als er ihn findet, fragt er ihn, ob er Fernando gesehen hat.
"It’s like yolo but in Spanish"
Fernando ist vor die Tür gegangen, und als wir rauskommen, spricht er tatsächlich mit einem Mädchen, sehr süß, mit langen, schwarzen Haaren und Carpe-Diem-Tattoo, das unter ihrem Topträger hervorschaut. Fernando erzählt vom Türsteher und dem Kokain, dann von seinem Lieblingsstrand in Mexiko, der sei "really beautiful" und viel besser als in Daytona. Er redet schnell und presst seine Bierflasche zu fest an den Oberkörper. Aber sagt dann mit entwaffnender Fernandohaftigkeit: "I will take you to the beach in Mexico some day." Volltreffer. Sie lächelt, streicht sich das Haar hinters Ohr, fragt, ob er erst mal was trinken möchte. Als sie sich zur Bar umdreht, läuft sie in einen Typen rein. Er trägt das Shirt eines Curling-Teams, massive Hände, blonde kurze Haare. Er bleibt stehen. "Hey, what kind of tattoo is this?" Er drückt seine Curling-Finger direkt auf ihr Dekolleté. Das Mädchen lächelt, zieht ihren BH-Träger zur Seite und legt die Schrift über ihrer rechten Brust frei. "Carpe Diem", sagt sie, "seize the day." Der Curler fragt, was das genau heiße. Sie sagt: "It’s like yolo but in Spanish."
Beach kommt zu Fernando und sagt, der Club sei doch scheiße. Außerdem hätte er Hunger, Pizza wäre geil. Fernando sieht, wie das Mädchen davongeht. Also sagt er, komm, lass uns ein Uber bestellen, wir müssen morgen früh los.
Und so gehen sie die Straße vor dem Club entlang, zertretene Marlboro-Packungen liegen auf dem Gehweg, die Palmen stehen stumm in der Nacht. Fernando rechnet sich aus, wie viele Stunden er noch hat, bis er wieder im Minivan Richtung Ohio sitzt, dann wagt er einen letzten Vorschlag, um diesen Spring Break zu retten: "Let’s go to the strip club, bro." Das Uber kommt und fährt leer wieder davon.
0.30 Uhr. Im Stripclub
Der Lollipops Gentlemen’s Club ist wohl der dreckigste, dunkelste Stripclub in Daytona Beach und riecht unangenehm nach Aprikose. Um das zu wissen, reicht es, die Google Reviews zu lesen. Fernando hat ihn nur ausgesucht, weil man ins Lollipops auch im Hawaiihemd reinkommt. Wir sitzen tief in unseren Sesseln am Rand der Bühne, eine blonde, etwas dicke Stripperin rutscht die Stange entlang und kommt auf uns zu gekrabbelt, damit wir ihr Geld zustecken. Fernando nimmt, wie er es aus Filmen kennt, einen Fünf-Dollar-Schein, lehnt sich rüber zur Stripperin, greift nach ihrem String und lässt Abraham Lincolns Kopf zwischen Scham und Stoff verschwinden. "Damn. We’re chilling", sagt er. Die Stripperin krabbelt zu Beach und fragt: "You want a dance?" Für einen "handsome boy" wie ihn koste die private Show nur 30 Dollar. Beach hat noch 13 Dollar im Portemonnaie, Fernando findet in der Hosentasche zehn Dollar, ich gebe die restlichen sieben. Fernando legt noch mal drei Dollar dazu, er sei sich nicht sicher, ob man bei so etwas Trinkgeld gibt. Die Stripperin nimmt Beach an die Hand und verschwindet mit ihm hinter dem blauen Vorhang des VIP-Bereichs.
2 Uhr. Der Abschied
Fernando und ich setzen uns vor die Bühne und bestellen Corona. Eine Stripperin erzählt uns, dass sie Venezolanerin ist und hier als Freiberuflerin arbeitet, sie bezahlt DJ und Clubbetreiber eine Miete für den Abend, lebt nur von den Trinkgeldern. Wir sagen, dass wir das unfair finden, und kurz möchte ich ihr vorschlagen, eine Gewerkschaft zu gründen. Beach kommt wieder. Er sieht blass aus. Er setzt sich zu uns und trinkt den Bodensatz eines Coronas leer. "How was it?" Er sagt nichts. "How was it, bro?" Er sagt, dass die Stripperin ihm für 30 Dollar einen Blowjob angeboten habe. Fernando schaut ihn an. "Did you do it?"
Beach steht auf, immer noch sehr blass, öffnet die Uber-App und sagt: "Let’s go home, bro."

Diese Geschichte stammt aus der zwölften Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.