
Ein Artikel aus ...
... JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Die 15. Ausgabe gibt es seit dem 10. Oktober 2019 am Kiosk.
Das große Grauen beginnt ganz unten. Auf den Boden der Halle haben sie Latten verschraubt, die einen Weg durch den Raum vorgeben sollen, an ihren Seiten streben Holzplatten zur Decke, die Wände eines Labyrinths. Was andere noch nicht erkennen können, sieht Jan Stöhlmacher ganz klar vor sich: "Hier ist der What-the-Fuck-Raum", sagt er, "da soll keiner mehr wissen, wo oben und unten ist."
Der 47-Jährige liebt Achterbahnen und Adrenalin, seine Urlaube verbringt er in Freizeitparks überall auf der Welt, immer auf der Suche nach einer noch höheren, noch schnelleren Bahn. Eigentlich arbeitet Jan in einer IT-Abteilung in Hamburg, doch nebenbei ist er "Chef eines Haufens aus Bekloppten", wie er sagt. Jan ist Gründer und Vorsitzender der Boo-Crew. Seit 2005 sucht er Gleichgesinnte, die das Schreien anderer noch mehr lieben als ihr eigenes. Heute hat er 130 von ihnen gefunden, 130 Boos. Zusammen sind sie die Erschrecker des Heide-Parks.
Manchmal treten sie in anderen Vergnügungsparks auf oder gastieren auf Jahrmärkten, doch die meisten ihrer Wochenenden verbringen sie in Soltau, im Heide-Park. Dort schlafen sie im Abenteuerhotel, bauen an Irrgärten, die sie, weil es cooler klingt, nur Mazes nennen, das englische Wort für Labyrinthe. Auf mehreren Hundert Quadratmetern erschaffen sie Horrorfilme zum Durchgehen, schicken die Besucher durch verfluchte Hotels, durch eine Irrenanstalt, durch verlassene Teile des Heide-Parks. Von der ersten Schraube bis zum Soundtrack, alles machen sie selbst. Geld bekommen sie keins dafür, der Park zahlt die Baukosten, sie dürfen umsonst schlafen und essen – und morgens, vor Parköffnung, Achterbahn fahren. Manche reisen Woche für Woche zwei, drei Stunden an. Wer ein Boo ist, braucht keine anderen Hobbys.
An einem Wochenende im Mai werden neue Boos ausgewählt, wer Teil der Crew werden möchte, muss zum Casting. Die Jury sind Maren, Marten und Tim, sie alle sind schon lange dabei, und sie alle wollen ihre Nachnamen nicht in der Zeitung lesen: "Kommt nicht so gut im Job, so ein blutrünstiges Hobby", lacht Maren. Sie besetzt die Rollen. An zwei Wochenenden im Oktober, um Halloween herum, haben die Erschrecker ihren großen Auftritt im Park. Man könnte es blutiges Improtheater nennen oder sagen, dass sie sich alle in Zombies, Mörderinnen, Clowns und wirklich böse Ballerinas verwandeln.
Dass sie diese Verwandlung können, müssen die neun Bewerber im Meetingraum des Abenteuerhotels beweisen. Blassgrüner Teppich, ein Tisch an der Seite, auch im Heide-Park sind die Konferenzräume trist. Alle Bewerber waren schon Opfer der Boo-Crew. Jetzt wollen sie die Seiten wechseln.
Der Angstschrei von Denise will nicht so wie sie, nur ein klägliches "Ah" entweicht ihr. "Ich bin etwas krank", versucht sie sich zu entschuldigen. Die Jury macht Notizen.
Samy, groß und kräftig, hat sich bereits so verausgabt, dass ihm die Hose gerissen ist. Deswegen trägt er jetzt eine dreckige Leinenhose, die eigentlich zum Gnomkostüm gehört.
"Hast du etwas Anspannung im Bauch?", fragt die Jury eine Bewerberin, die zu zaghaft bleibt. "Ich habe überall Anspannung", antwortet die. Deutschland sucht den Supererschrecker, das nehmen hier alle todernst.
Bei der Auswahl geht es nicht nur um Können, sondern auch um Sozialkompetenz. Die Mitglieder der Boo-Crew verbringen nahezu jedes Wochenende miteinander, teilen sich Zimmer, wenn da jemand nicht ins Team passt, wird es schnell anstrengend. Außerdem ist es wichtig, dass die Bewerber verstehen, dass das Erschrecken immer noch ein großer Spaß ist. "Einmal hat jemand Gäste körperlich angegriffen", erzählt Jan. "Das darf nicht passieren. Der war ganz schnell wieder raus."
Nach fast sieben Stunden Casting – irre und gruselig – und fast einer Stunde Beratung fällt die dreiköpfige Jury ihre Entscheidung: Samy in der Gnomhose wird ein Boo, Denise auch. Außerdem Andy, fast 60, mit weißem Schnauzbart, und Yannick, auf den ersten Blick ein ruhiger, junger Mann – bis er anfängt zu brüllen. "Mein Zombiewalk war zu schlecht", sagt einer, der es nicht geschafft hat. Er versucht, seine Enttäuschung wegzulachen.
Jan hat mit solchen Entscheidungen nichts mehr zu tun, er entwickelt die Häuser, in denen die Besucher das Fürchten gelehrt werden soll. Bis auf die Elektriker ist keiner von ihnen Profi, was sie können, haben sie sich selbst beigebracht. "Ich hole mir meine Ideen aus Horrorfilmen oder von anderen Erschreckern", sagt Jan – abgeschaut wird natürlich nur im Ausland. Das neueste Projekt heißt Subterra, eine Untergrundwelt, in der ein seltsames Erdvolk haust. "Alle degeneriert, mit durchscheinender Haut. Klar, dass die gerne Menschen essen", sagt Jan.
Aber kann man sich überhaupt fürchten, wenn man weiß, dass nichts passieren kann? Dass alles inszeniert ist? Dass die Ängste unrealistisch sind? Clowns sind nicht wirklich böse, die meisten Spinnen ungefährlich, das Blut kommt aus der Konserve. "Und wie das geht", sagt Jan. Im letzten Jahr eröffnete die Boo-Crew ihr neues Maze, die Freakshow: ein Zirkus Bizarr mit blutigen Clowns, bärtigen Frauen und Wesen, die halb Mensch, halb Kuscheltier sind. Obwohl alle wussten, worauf sie sich einließen, flehte ein Besucher nach dem anderen, das Maze verlassen zu dürfen.
Vier Wochen später haben die neuen Boos ihre Premiere beim Zombie Escape, einem Escape Game mit echten Menschen und, na ja, fast echten Zombies. Dafür haben die Erschrecker einen stillgelegten Teil des Heide-Parks umgestaltet. In der alten Fischkate liegen blutige Gedärme und abgehackte Hände, in einem winzigen Schloss warten Zombies auf ihre Opfer. In zwölf Minuten müssen die Gruppen einen Code knacken – und vermeiden zu sterben. Nur symbolisch natürlich, die Gäste haben Westen mit Bändern daran an, wenn ein Zombie ein Band erwischt, sind sie tot.
Zunächst muss sich aber die Boo-Crew vorbereiten. Denise, Andy und Yannick sind schon fertig, bis auf das Casting haben sie kein Coaching mehr bekommen. Wird schon klappen, muss klappen.
"Wer kann bei mir eine Blutdusche machen?", ruft ein Zombie und wankt zu einem kleinen Plastikzelt. Früher haben sie hier, im stillgelegten Dämonengrill, einfach Plastik auf dem Boden ausgelegt und von oben Kunstblut regnen lassen, aber das hat zu viel gespritzt. Heute schminken sich die Zombies gegenseitig. Mathi sieht aus, als habe ihm jemand Erdnussbutter mit Stückchen auf die Brust gekotzt. Er kann das aber nur ahnen, vor seinen Pupillen stecken milchige Kontaktlinsen: "Brennt höllisch", sagt er. Und sehen kann er auch nichts.
Die letzten Erschrecker betupfen sich mit Blut, steigen in ihre Militäruniformen, schnell noch einstimmen, dann müssen sie los. "Ihr guckt niemanden an. Ihr erschreckt niemanden", sagt Jan. Er trägt eine Boo-Crew-Weste, in der Tasche steckt ein Walkie-Talkie. "Und haltet Abstand von Kindern", mahnt er und öffnet die Tür. Die Soldaten umzingeln die Zombies, langsam zucken und schlurfen sie durch den Park, über ihren Köpfen rollen die Achterbahnen. Ein Kind sieht die blutigen Untoten und beginnt zu weinen, die Mutter schiebt es schnell hinter sich, guckt die Erschrecker böse an, das hier ist immer noch ein Familienpark. "Das sind doch nur Schauspieler", versucht Jan zu beruhigen. Es nützt nichts.
Hinter der Absperrung beginnen die Zombies wieder normal zu laufen, einzelne stecken sich eine Zigarette an, sie lachen. "Wo sind die Notausgänge?", fragt Claudia, die heute für alle verantwortlich ist. Die anderen zeigen auf den Plan. "Was macht ihr, wenn sich jemand verletzt?", fragt sie. "Aus der Rolle fallen und rausbringen", antwortet die Crew. Die Zombies, die Soldaten und Andy, der den Wissenschaftler mimt, gehen auf ihre Positionen.
Die Soldaten treiben die Gruppe ins Zelt, ich stehe mittendrin. Eigentlich hatte ich vor, mich unauffällig an die Besucher zu heften. Irgendwie dabei zu sein, aber irgendwie auch nicht. Das hat nicht funktioniert. Ich grinse Tim an, wir kennen uns ja. Dafür schreit er mich nur noch lauter an. Sie brüllen uns die Regeln entgegen: nicht sterben, Codeschnipsel finden – und bitte beeilen! Dann schubsen sie uns aus dem Zelt hinein zu den Zombies. Die anderen rennen, ich schlurfe hinterher. Kenne ich ja alles, ich fühle mich sicher, bis der erste Zombie aus einer Ecke auf mich zuschießt. Jetzt renne ich auch.
In der Hektik erkenne ich keinen der Boos mehr. Irgendwann werden wir von den Zombies eingekesselt, sie scheinen überall zu sein. Einer pirscht sich ganz nah an mich heran, ich spüre seinen Atem an meinem Hals, aber statt mich zu bewegen, bleibe ich stehen, wie paralysiert. Der Zombie streckt seinen Arm langsam nach meiner Schulter aus, zupft mir das Bändchen von der Weste, und ich bin tot. Was für ein leichtes Opfer.
Der Rest schafft es. Draußen stehen sie außer Atem und strahlen. "Das war so echt", sagt Tobi, groß, viel Bizeps. Vorhin hat er noch gewitzelt und über seine Freundin Nicole gelacht, die aufgeregt in der Schlange zappelte, im Maze habe ich ihn kreischen gehört.
Kurz danach muss die erste Frau aus dem Parcours geführt werden, die Zombies, der Stress, das war ihr zu viel. In der Mittagspause sitzt die Boo-Crew in der Fischkate. Neben Gedärmen und blutigen Händen essen sie Pizza und Frikadellen. Mathis Augen brennen immer noch, ein Zombie braucht ein Kühlpack.
"Musste die Frau bei euch rausgeführt werden?", fragt ein Zombie den anderen. "Die stand einfach nur noch da. Da ging nichts mehr." Alle grinsen stolz.
"Guck mal", ruft eine Zombie-Frau und hält ihren Unterarm hoch, er ist rot und angeschwollen. "Da hat jemand vor Angst draufgeschlagen", sagt sie und zeigt ihn wie eine Trophäe.
Diese Geschichte stammt aus der 15. Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.