Ex-Nationaltorhüter Tim Wiese ist erstmals bei einem Wrestling-Kampf in den Ring gestiegen. Offiziell hieß es zwar, er sei privat gekommen, um sich den WWE-Kampf am Samstagabend in der Festhalle in Frankfurt anzusehen. Doch nachdem einer der Kämpfer den in der ersten Reihe sitzenden Wiese im Showstil der Wrestler provoziert hatte, kletterte der 32-Jährige durch die Seile in den Ring. Anschließend feierte er mit dem Sieger-Duo "The Usos" im Rampenlicht.
Gekämpft hat der Ex-Fußballer noch nicht. Das könnte sich aber bald ändern. Nach seinem Abschied vom Fußball hatte Wiese bereits mehrfach sein Interesse an einer zweiten Sportkarriere als Wrestler bekundet. Aufgefallen war er auch durch seinen ordentlichen Zuwachs an Muskeln. Der stern hat Wiese vor einiger Zeit getroffen - im Fitnessstudio.
Der Schweiß läuft schon nach Sekunden. In einem Rinnsal löst er sich aus den Haaren an den Schläfen, rinnt hinab, tränkt das langärmelige T-Shirt von innen. Sein Träger misst 1,93 Meter, nicht nur deshalb braucht er mindestens XXL. Der Stoff bedeckt einen Oberkörper, der auch Ralf Möller beeindrucken würde. Nun, an einem Montagmorgen in einem Sport- und Gesundheitszentrum in Lilienthal bei Bremen, hebt und senkt sich dieser Brustkorb wie ein mächtiger Blasebalg. Tim Wiese trainiert wieder.
Bald gibt er die nächste Kostprobe seines neu erworbenen Könnens und schleppt 40-Kilo-Hanteln herbei. Wuchtet die Eisengewichte acht-, neunmal vor seinem Leib nach oben. Dann krachen sie neben seiner Bank zu Boden. "Zehn Kilo mehr wären noch gegangen", sagt er sachlich. Er will nicht prahlen, aber man soll schon sehen, was der neue Wiese so draufhat.
Er hat einen dann doch mitgenommen ins Reich der Kraftmaschinen und Freihanteln, das zu seiner zweiten Heimat geworden ist. Fünf- bis sechsmal pro Woche trainiert er in einem weiß getünchten Studio neben Hausfrauen und Freizeitsportlern. Und Bodybuildern. "Das ist das, woran ich mich hochziehe", sagt er in einer seiner typischen Einsatzantworten. Ein Stabilisator sei der Schmerz an der Hantel. Nicht nur für Oberkörper und Rücken. Man spürt: Hier holt er sich jene Anerkennung
zurück, die ihm zuletzt versagt geblieben ist.
"Die Lästermäuler sind Feiglinge"
Er ist misstrauisch geworden, introvertiert. Man darf sich nicht täuschen lassen vom weit aufgeknöpften Jeanshemd, von martialischen Tattoos, seinem herausfordernden Gang. Er weiß um die Häme, die ihm entgegenschlug, als im Netz ein selbst gemachtes Handyfoto auftauchte, das ihn mit bloßem Oberkörper vor einem Fitnessstudio-Spiegel zeigte. Er wurde Freak und Narziss genannt.
Stört ihn nicht. Sagt er. Die Lästermäuler seien Feiglinge. Aber vorsichtiger ist er geworden. Wollte einen erst kennenlernen. Sehen, ob man ehrliches Interesse zeigt an seiner neuen Passion Bodybuilding, die längst eine Obsession geworden ist. Er hat zu viele Tiefschläge eingesteckt in den vergangenen zwei Jahren. Vom Nationaltorwart zum Frührentner in Rekordzeit. Mit 32, dem besten Torwartalter. Selten ist einer schneller gestürzt im deutschen Fußball. So etwas ist nicht leicht zu verdauen, auch wenn Wiese sagt, dass es ihm gut gehe. Heute.
Eine gaaanz sichere Nummer
Erst zwei Jahre und rund 30 Kilogramm weniger ist es her, dass er als zweiter Torwart mit der Nationalmannschaft zur EM nach Polen und in die Ukraine reiste. Kult, das war er, bei Werder Bremen und auch bei Löw. Eine größere Podolski-Version. Wie der Prinz aus Kölle war er im Umland des Doms aufgewachsen. Haute am Mikrofon schon mal einen raus. Taff, das wollte er sein. Taff, das war er. Doch sein rheinischer Frohsinn sorgte dafür, dass er nicht alles so ernst nahm. Selbst jene im deutschen Fußball, die nicht viel mit seiner Sonnenstudiobräune und den Ohrringen anfangen können, sagen, der Wiese, das sei zwar ein Verrückter, aber im Kern nicht verkehrt.
Mit 20 Jahren hatte er in der Bundesliga debütiert, beim 1. FC Kaiserslautern. Er war ein Produkt des Torwart-Bootcamps des berühmten Gerry Ehrmann. Hatte später mit Werder Bremen Vizemeisterschaften, ein UEFA-Cup-Finale, den DFB-Pokalsieg erlebt. Was sollte ihm ein Wechsel ins beschauliche Hoffenheim schon anhaben? Für vier Jahre hatte er unterschrieben, sein Gehalt betrug 3,5 Millionen Euro jährlich. Er war jetzt Kapitän. Hoffenheim? Eine gaaanz sichere Nummer.
Er sah die Wand nicht kommen, in die er 2012 nach seiner Rückkehr von der EM geradewegs donnerte. Zunächst eröffnete ihm Torwarttrainer Andreas Köpke, dass seine Karriere in der Nationalmannschaft vorüber sei. Jüngere sollten zum Zug kommen. Dann merkte Wiese, dass er in Hoffenheim nicht als Held, sondern mit stiller Ablehnung empfangen wurde. Der Publikumsliebling Tom Starke hatte für Wiese weichen müssen, nicht nur dem Torwarttrainer Zsolt Petry hatte das missfallen. Tim Wiese brauste derweil mit seiner Solariumsbräune im Mercedes durchs Kraichgau. "Die Fans waren nicht auf meiner Seite, dabei ist Unterstützung das Wichtigste", sagt Wiese mit solch tonloser Stimme, als könne er der Enttäuschung durch eine sachliche Analyse ihre Kraft nehmen.
Groteske Patzer in Serie
Er spricht nicht gern über seine Gefühle. Passt nicht zu seinem Selbstbild. Er versteckt seine Botschaft in schnell hervorgestoßenen, halblauten Sätzen: "Es ist doch das Wichtigste, dass man geliebt wird. Ich hätte mir das anders gewünscht."
Doch trotz aller Startschwierigkeiten war in Hoffenheim nicht sofort alles verloren. Ein paar ordentliche Spiele hätten die Stimmung gedreht. Gute Paraden helfen gegen Vorbehalte in Fankurven. Doch Wiese leistete sich groteske Patzer. In Serie. "Ich war komplett verunsichert, habe über Dinge auf dem Feld nachgedacht, über die ich sonst nie nachdenke. Wenn ich den Ball nach links rausgeworfen habe, hätte ich ihn besser nach rechts geworfen." Nicht lange, und er war das Gesicht einer verfehlten Personalpolitik. "Man hätte das Schild Hoffenheim abreißen und TSG Wiese hinschreiben können", sagt er. Auf ihn stürzten sie sich - Fans und Journalisten.
Er bot Angriffsfläche, beleidigte den Torwarttrainer, feierte zu wild Karneval. Sein Bild in der Öffentlichkeit rundete sich. Doch sollten sie nur reden und schreiben, er machte sich nicht klein. Das war seine Rache.
Aussortiert nach einer Saison
Im Januar 2013, ein halbes Jahr nach
seiner Ankunft in Hoffenheim, bestritt
Wiese sein letztes Bundesligaspiel.
Markus Gisdol, Wieses vierter
Trainer im Verein, http://www.stern.de/sport/fussball/suspendierter-ex-nationaltorwart-tim-wiese-und-tsg-hoffenheim-gehen-getrennte-wege-2084763.html;sortierte ihn nach
der Saison aus#. Nicht einmal mit der
ersten Mannschaft durfte er fortan
trainieren. Er war jetzt ein Fußball-Paria, ohne Bestimmung. Nur das
Geld band ihn an Klub und Region.
Im Januar 2014 einigten Wiese und
Hoffenheim sich, den Vertrag ruhen
zu lassen. Er war jetzt frei, zumindest
räumlich.
Wiese darf nicht über die Details
der Vereinbarung sprechen. Ein falsches
Wort, und ihm drohte die fristlose
Kündigung. Millionen wären
futsch. Bis 2016 bezieht er angeblich
noch insgesamt fünf Millionen Euro.
Weniger dürfte es auf keinen Fall sein.
Er wird keinen Cent liegen lassen.
Doch das Ganze hat seinen Preis.
Freunde sagen, er habe die kleineren
und größeren Demütigungen
nie ganz verarbeitet. Es ist kein Zufall,
dass Wiese in jenen Monaten
des Frühjahres 2013 - er war eben
endgültig aus der Mannschaft gekippt
- eine alte Leidenschaft wiederentdeckte:
das Krafttraining.
Schon zu Bremer Zeiten hatte er
sich nach jenem Mann erkundigt,
der heute seine Trainingspläne erstellt:
Heiko Dörfer. Der 42-Jährige
ist zweifacher Deutscher Meister im
Bodybuilding und stand 2008 im
WM-Finale. Ihm gefalle Dörfers Statur,
aber leider dürfe er ja als Torwart
nicht loslegen, hatte Wiese damals
bedauert.
"Der Schmerz macht mir Spaß"
Der Körperkult und das Spiel der
Muskeln faszinierten ihn noch immer.
Die Aussichtslosigkeit in Hoffenheim
und die Gewissheit, dass
nach Vertragsende ohnehin alles
vorbei sein würde, trieben ihn an.
Zwei Jahre raus als Torwart, das verzeiht
der moderne Fußball nicht. Zu
viele Junge, die aus den Akademien
nachdrängen. Sie sind billiger, einfacher
zu steuern. Und voll im Saft.
"Der Frust" und das "Gefühl,
etwas machen zu müssen", hätten
ihn angefeuert, bekennt Wiese.
"Und auch die Langeweile." Am
Morgen Einzeltraining, am Abend
Fitnessstudio, das war von nun an
sein Leben. Noch trainierte er nicht
besessen auf der Suche nach dem
letzten Gramm Muskel. Er wuchs
auch so. Rasant.
Ein neues Hobby, das ihn ausfüllt,
hätte dies sein können, durchaus
hilfreich fürs Selbstwertgefühl.
Doch die Mitte ist nicht Wieses
Ding. Wenn es um seinen Körper
geht, kennt er nur ganz oder gar
nicht. "Der Schmerz macht mir
Spaß, das macht mir nichts aus.
Sonst hat man ja keinen Effekt beim
Training", das sei sein Prinzip.
Wieses Wille ist stark, das zeigt
auch eine Geschichte aus seiner Zeit
in Bremen: 2008 verordnete sich
Wiese eine Diät, die als das große
Abschmelzen
in die Bundesliga-Geschichte einging. 14 Kilo runter in
weniger als sechs Monaten.
Heimliches Training
Jeden Tag lief Wiese um den Weserdeich,
sieben Kilometer. Danach
ging es in die Sauna, "im Stehen, das
ist sehr wichtig, da hat man einen
Puls, als ob man einen Marathon in
der Wüste läuft". Sein Rhythmus:
einmal 15 Minuten, dann dreimal
7 Minuten. Erst danach folgte das
Torwarttraining.
Wiese lacht kurz. Gesund sei das
nicht gewesen. Habe ihm aber Spaß
gemacht. Und gutgetan. Einmal
habe ihn Werders Trainer Thomas
Schaaf beim Laufen erspäht. "Ich
habe mich immer versteckt, sieht
kein Verein gern, wenn man unabgestimmt
sein eigenes Programm
fährt. Gab ’ne schöne Ansage." Und
dann? "Hat er mich wieder erwischt.
Aber da hat er sich wohl gesagt: Der
Typ hat echt einen Schatten, den
muss man einfach lassen. Meine
Leistung hat ja gestimmt."
Bis auf 86 Kilo drückte Wiese sein
Gewicht, "dann ging es aber nicht
weiter. Ich bestand nur noch aus
Haut und Knochen." Bei 90 Kilo pendelte
er sich ein, dabei blieb es, bis
vor eineinhalb Jahren.
Anabolika? "Nein!"
Aber warum diese Radikalität?
Wieder ein kurzes Lachen: "Je
schneller, desto besser." Er mag einfach
nicht monatelang warten, nicht
sein Ding, er ist da eher ein Sprinter,
Start-Ziel, bringt sonst eh nix.
Nun also andersherum: Bodybuilding.
Als Selbstzweck. Bis auf 130
Kilo soll es hinaufgehen, bei 120
liegt er im Moment. Dann den Körperfettanteil
senken, runter auf sieben
Prozent, er hätte einen echten
Bodybuilding-Körper, pralle Adern
inbegriffen.
Seine Trainer haben ihm mittlerweile
einen Ernährungsplan verordnet,
5000 bis 6000 Kalorien nimmt
er täglich zu sich. Circa fünf Eiweißshakes kippt er pro Tag in den riesigen
Leib. Beim Fleisch vertraut
Wiese auf Angus-Rind aus Argentinien,
nur das Beste ist gut genug für
seinen Körper. Alles genau durchgetaktet.
Fast wie früher. Er zählt die
Nahrungsergänzungsmittel auf: das
Aminosäurepräparat BCAA, Kreatin,
Glutamin, Fischöl, Zink. Er vertraut
seinen Trainern, dass alles sauber
ist. Sei alles frei erhältlich.
Anabolika? Wiese verneint energisch.
Wirklich vernünftig klingt es
auch so nicht.
Einfach weitertrainieren
Sein Trainer Dörfer sagt, sein
Schützling sei prädestiniert für den
Muskelzuwachs. Hanteltraining
schlage bei ihm extrem schnell an.
Erst jetzt lerne dieser Wiese überhaupt,
richtig zu trainieren. Am
Anfang sei das ein wildes Reißen
gewesen, Hauptsache, viele Wiederholungen
und hohe Gewichte.
Tim Wiese sagt, er plane nichts für
die kommenden Monate. Er trainiert
einfach weiter. Es gibt Schlimmeres
als einen zweijährigen Urlaub
mit Millionenzulage. http://www.stern.de/sport/sportwelt/tim-wiese-laesst-die-muskeln-spielen-ex-keeper-will-offenbar-wrestler-werden-2138541.html;Das amerikanische
Show-Wrestling lockt angeblich
mit einer lukrativen Offerte.#
Der Boulevard dreht seither durch
vor Glück: Hulk-Wiese in den USA,
das wäre die Krönung. Wiese will
nicht ausschließen, dass es so weit
kommt, sein Berater Roger Wittmann
werde sich demnächst mit
Interessenten
zusammensetzen.
Wiese klingt wie ein Geschäftsmann,
der seine Optionen abwägt.
Ein, zwei Milliönchen würden aber
wohl nicht reichen, um ihn in die
Hülle eines hochgepimpten Testosteronmonsters
schlüpfen zu lassen.
Andererseits: Noch mal die große
Bühne - das könnte ihn reizen.
Rückkehr nach Bremen
Vor anderthalb Monaten ist er
zurückgekehrt
nach Bremen, dorthin,
wo er zum Nationaltorwart und
Liebling der Massen aufstieg. Hat
ein Haus gekauft; die Tochter ist
eingeschult. Ehefrau Grit, eine
Diplom-Psychologin, will bald wieder
arbeiten. Man hätte sie gern
gefragt,
was sie zum neuen Wiese
sagt, aber so weit geht das Zutrauen
dann nicht.
Bremen ist jetzt die Basis der Wieses.
Die Menschen lieben ihn hier,
auch und gerade den Muskel-Wiese.
Kein Getuschel. "Die verknüpfen
mit mir die erfolgreichen Zeiten",
sagt er. Der SV Werder rangiert mittlerweile
am Tabellenende, ist tief gefallen,
wie sein alter Torwart. Wiese
geht nicht mehr hinaus ins Stadion.
Zu viel Trubel um seine Person, vielleicht
auch zu viel Wehmut.
Er hat seine weichen Seiten. Seit
Jahren besucht er jeden Monat die
Mutter im Rheinland; der Vater
starb 2011. Er ist ein höflicher Gesprächspartner.
Verabredet man
sich mit ihm zum Telefonat, ruft er
mit absoluter Verlässlichkeit zurück.
Er verspätet sich nie, eine Seltenheit
im Fußball-Business. Auch
das passt nicht zum Bild des grellen
Gernegroß.
Kein Fußballer mehr
Die vier Wagen, die auf seinen
Namen
angemeldet sind, passen da
schon eher. Neben einem Mercedes
und einem BMW für die Frau stehen
ein Camaro mit 1000 PS und ein
Lamborghini in der Doppelgarage.
Verprasst er das angehäufte Vermögen?
Wiese blickt, als hätte man ihm
ein unmoralisches Angebot gemacht.
"So einen Camaro gibt es vier Mal
auf der Welt, der ist in 20 Jahren das
Dreifache wert, das ist eine Wertanlage.
Ich bin doch nicht so bekloppt
und verdiene jahrelang gutes Geld
und verballere es dann in Spekulationen
oder Aktien."
Letzte Frage: Fühlt er sich überhaupt
noch als Fußballer? "Nein",
antwortet er ruhig. "Ich gehe andere
Wege im Sport." Er vermisse das Spiel
nicht. Die Zeit in Hoffenheim habe
ihm viel von seiner Lust genommen.
Dafür genieße er sein neues Training.
Man fragt sich, ob für ihn dieses
neue Training, mit all seinen Begleiterscheinungen,
Fluch oder Segen
sein wird, für die Zeit nach der Karriere.
Wahrscheinlich beides. Das
neue Leben des Tim Wiese klingt
auf jeden Fall verdächtig nach dem
alten: "Ich muss immer alles extrem
machen. Keine Ahnung, warum, immer
extrem."
Dieser Artikel erschien in der stern-Ausgabe Nr. 43 am 16.10.2014. Hier finden Sie ihn noch einmal zum Nachlesen.