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Victoria's Secret erobert Europa Der Krieg der Körbchen

Victoria's Secret ist nicht nur für sexy Unterwäsche berühmt, sondern auch für Supermodels und die größte Show der Branche. Diese findet erstmals in London statt: Der US-Gigant will Europa erobern.
Von Stephan Draf

Der Text über "Victoria's Secret" erschien in der stern-Printausgabe Nr. 49 am 27. November 2014.

"Empire State Building? "Nö, morgen." Central Park? "Interessiert mich nicht." Wall Street? "Vielleicht." Gestern Abend erst ist Maren Berger, Studentin aus Freiburg, in New York eingetroffen, heute Morgen um kurz nach neun Uhr besucht sie die für sie wichtigste Sehenswürdigkeit, den "Victoria's Secret"-Laden am Herald Square in Manhattan. Während Maren die drei Stockwerke des Shops durchstreift, checkt sie noch einmal ihre Einkaufsliste: vier BHs (rot, weiß, golden und beige), zehn Unterhosen, ein rotes Negligé für die Mama. Es riecht nach süßlichem Parfüm, die Räume, kathedralenhoch, sind in schummriges Licht getaucht. Auf meterhohen Videoleinwänden flackern Bilder von Models in knapper Unterwäsche und mit Flügelchen auf dem Rücken, sie heißen hier "Angels" und haben die Marke Victoria's Secret und in der Folge auch sich selbst weltberühmt gemacht, Heidi Klum singt wahrscheinlich jeden Tag ein Lied davon. An den Wänden in New York steht jedenfalls: "Sexy." – "Be a supermodel." – "Earn your wings."

Am 2. Dezember werden sie live zu sehen sein, Elsa Hosk, Kelly Gale, Adriana Lima und viele andere berühmte Schöne, wenn Victoria's Secret zu seiner "Fashion Show" lädt, dem Champions-League-Finale der Modebranche: Etwa 15 Millionen Dollar kostet die Sause, jeder Flügel der Engel wird dann mit gut 100.000 Swarovski-Steinen besetzt sein (und 15 Kilo wiegen), für das musikalische Rahmenprogramm wurde keineGeringere als Pop-Superstar Taylor Swift verpflichtet. Eintrittskarten werden meist unter der Hand gehandelt – für mindestens 12.500 Euro. Es wird also, wie immer, ein großes Spektakel werden, die Branche freut sich schon.

Show in London - Angriff auf Europa?

Erstmals seit 14 Jahren wird die Show nicht in den USA aufgeführt – sondern in London, in Europa, dort, wo es Victoria's-Secret-Büstenhalter und -Höschen nur vereinzelt zu kaufen gibt, etwa in vier Shops in London. Im Duty-free-Bereich der Flughäfen Hamburg und München strömten im Herbst 2013 die Kundinnen zunächst sehr erfreut in die neuen Victoria's-Secret- Shops, nur um festzustellen, dass dort hauptsächlich Duftkerzen und Handtäschchen verkauft werden – die begehrte Wäsche suchten die Frauen vergebens, nur ein paar bunte Höschen lagen verloren herum. Immerhin: Die Vorhut ist angekommen.

Doch nun rätselt die Branche: Ist die Show in London der Auftakt eines BH-Angriffskriegs? Rüstet die Marke, die im Jahr fünf Milliarden Euro umsetzt, die fast die Hälfte davon für Marketing ausgibt und deren Produkte etwa ein Fünftel des weltweiten Dessous-Marktes ausmachen, für den Angriff auf Europa?

Es spricht vieles dafür: Vor drei Wochen stellte sich Victoria's- Secret-Chef Leslie Wexner vor die Finanzanalysten der Wall Street: "Bislang haben wir uns auf die amerikanischen Mitbewerber konzentriert. Vor Jahren haben wir dann begonnen, uns auf die Welt zu konzentrieren. Jetzt müssen wir schneller vorangehen." Und fügte eine Beobachtung hinzu: "Selbst in Regionen, in denen die Menschen kein Englisch sprechen, können sie den Schriftzug Victoria's Secret entziffern." Es scheint, als müssten sich Europas Wäschehersteller, höhö, warm anziehen. Lange Zeit hielt sich ein Gerücht, das besagte, dass zwischen Amerika und Europa ein Nichtangriffspakt bestehe. Der scheint jetzt aufgekündigt.

In Europa geht es in Wäschedingen allerdings eher kompliziert zu. Die Branche ist in zahllose Fami- lienunternehmen zersplittert, einige Platzhirsche gibt es aber auch: die Kette Hunkemöller, den italienischen Mitbewerber Calzedonia mit seiner Trendmarke Intimissimi – Letzterer mit einem Milliardenumsatz.

Von Säbelrasseln ist in der Alten Welt nichts zu hören. "Die Amerikaner sind ein Marketing-Gigant, sie würden für Bewegung im Markt sorgen", gesteht Michael Mertens zu, der Deutschland-Chef von Chantelle und Passionata, französischen Edelmarken, feiner und teurer als Victoria's Secret, aber ebenfalls auf die Zielgruppe "Young and sexy" ausgerichtet.

Dessous – ein komplexes Thema, gerade weil die Geschlechter so unterschiedlich darauf reagieren. Männer erinnern sich beim Kürzel "BH" meist nur an die ersten Häkchen, die sie auseinanderfummeln mussten – bis ihnen, im besten Fall, eine gnädige Partnerin lächelnd zur Hand ging. Weiterhin trauen sich die Herren nur selten in Wäscheläden: Über geschenkte Unterwäsche dürfen sich bloß sieben Prozent der Frauen freuen, wie die Fachzeitschrift "Textilwirtschaft" herausfand. Ihnen geht das Thema naturgemäß recht nahe, und nicht wenige haben den Satz von Coco Chanel im Ohr: "Frauen müssen die Männer auf das neugierig machen, was sie schon kennen."

Europäerinnen ticken anders als Amerikanerinnen

Noch komplizierter wird das Thema dadurch, dass sich die Bedürfnisse der europäischen Kundinnen deutlich von denen der Amerikanerinnen unterscheiden. In den USA ist schiere Größe der entscheidende Parameter – der Siegeszug des Pushup- BHs begann definitiv zwischen New York und San Francisco. Europäerinnen (und auch ihre Männer) dagegen geben nicht so viel auf Gigantomanie.

Auch innerhalb Europas unterscheiden sich die Vorlieben: Deutsche Frauen mögen es gar nicht, wenn sich Wäsche nach außen abzeichnet, "sie wollen drunter lieber unsichtbar sein", beschreibt das Michael Mertens – der sogenannte T-Shirt-BH ist hier das Kleidungsstück der Wahl. Französinnen und Italienerinnen wiederum haben überhaupt nichts dagegen, wenn sich zarte Spitzenbesätze unter Blusen zeigen, sie legen sogar Wert darauf. Und so kann Michael Mertens relativ gelassen feststellen: "Es wird nicht leicht. In der Vergangenheit taten sich amerikanische Hersteller eher schwer, sich einem fremden Markt anzupassen."

Dem Angriff aus den USA wollen die europäischen Markenfabrikanten mit handwerklichem Können begegnen, die Branche lobt selbst ihre "Passform-Kompetenz". Textiltechnisch ist der BH eine komplizierte Angelegenheit: Er setzt sich aus 30 bis 50 Einzelteilen zusammen, aus Stegen, Borten, Bügeln, Stäbchen – die Dresdnerin Christine Hardt konstruierte 1899 einen der ersten BHs noch aus Taschentüchern und Männerhosenträgern.

Die schwierigste Herausforderung der BH-Konstruktion benennt Mertens: "Eine Kugel mit Stoff zu bedecken ist ähnlich schwierig wie der Kuppelbau in der Architektur." In dem einen wie im anderen Fall verändern sich ständig die Spannungen, die auf dem Baumaterial lasten – weshalb gute BHs aus vergleichsweise starrer Baumwolle kaum zu fertigen sind. Wodurch Mikrofasern ins Spiel kommen, der Mörtel des Dessous- Handwerks. Auch hier gibt es große Unterschiede in Qualität, Preis und – hört man den teureren Herstellern zu – auch auf der Haut. Victoria's-Secret-Wäsche wird in der Szene als ordentliches Mittelmaß eingeschätzt. Der Stoff kratzt, sagen die Luxushersteller. Der Stoff ist völlig okay, sagen viele Kundinnen.

Erfolgloser Präzedenzfall: Abercrombie & Fitch

Was Victoria's Secret und seine europäischen Kontrahenten weitgehend eint, ist das "Size-Management". Da geht es um Begriffe wie "Körbchengröße" und "Unterbrustumfang". Erstere ist von A nach G, mitunter sogar noch weiter durchbuchstabiert, Letztere bemisst sich in Zentimetern, üblicherweise werden sieben, acht Größen unterschieden. Weil auch breite Oberkörper mit kleinen Brüsten vorkommen und schmale Torsi mit großen Brüsten und weil sich das Verhältnis im Alter ändern kann, ist man schnell bei 40 verschiedenen Größen, die man vorhalten muss – für ein einziges Design. Zum Vergleich: Die Eigenmarken von C & A beispielsweise bieten deutlich weniger Größen, Discounter wie Aldi und Lidl halten mitunter nur drei bis sechs Größen vor – klein, mittel, groß. Das, kombiniert mit der billigeren Produktion in Lohnbetrieben, reduziert die Kosten auf eine echt sexy Größe.

All das berücksichtigt: Kommt Victoria's Secret nach Europa? Sehr wahrscheinlich – und dann muss Maren Berger nicht mehr nach Amerika fahren, um sich, ihre Freundinnen und die Mama zu versorgen. Andererseits: Wie lange geht das gut?

Es gibt da einen Präzedenzfall: Vor Jahren eröffnete die Modekette #link;http://de-eu.abercrombie.com/shop/eu;Abercrombie & Fitch# zwei Dutzend Edelläden in Deutschland. Die Verkäufer werden wie Models gecastet, in den Geschäften wabern schwere Düfte, ansonsten bollert es wie in der Disco – der Ansturm der jugendlichen Käufer musste anfangs durch Absperrgitter eingedämmt werden. Zuletzt aber wurden die Läden zusehends leerer, im Geschäftsjahr 2013/14 brach der Nettogewinn im Vorjahresvergleich um 77 Prozent ein. Der Grund: Als die Abercrombie & Fitch-Klamotten noch selten waren, wollte sie jeder besitzen. Dann aber wurden sie Allgemeingut – und die Marke war nicht mehr begehrenswert. Auch wenn Victoria's- Secret-Produkte nicht so augenfällig sind – vielleicht sollten die Amerikaner die Europäerinnen weiter nach New York locken und so auf Exklusivität setzen.

So bliebe ihre Marke Kult, so wie jenes Stück Unterwäsche, das vor einigen Wochen in England für fast 10.000 Euro versteigert wurde: eine knielange Damen-Unterhose, gut 100 Jahre alt, passend für – so ergaben aktuelle Messungen – eine wohlgenährte Dame mit einem Taillenmaß von 132 Zentimetern. Das gute Stück gehörte einst der Königin von England, ihr Name war Victoria – und ihr Leibesumfang war ihr letztes Geheimnis.

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